TRAUMFABRIK BOLLYWOOD
Mumbai – Metropole des populären, erfolgreichen Hindifilms
Mit Hindifilmen sind kommerzielle, populäre hindi-sprachige Filme gemeint, die vor allem in Mumbai produziert werden. Aufgrund Herrschenden Sprachbarrieren haben sich weitere regionale Filmproduktionsstätten in Chennai, Delhi, Hyderabad und Kalkota entwickelt. Zwischen diesen regionalen Produktionstätten findet ein Austausch von erfolgreichen Filmen statt. Kassenknüller von einer Region werden in einer anderen Region entweder nachsynchronisiert oder es wird ein Remake von ihnen gemacht. Das indische Kommerzkino ist gemessen an seinem Produktionsausstoß inzwischen das größte der Welt. Jährlich entstehen zwischen 700 und 1000 Spielfilme. Da die bekanntesten und erfolgreichsten Filme jedoch in Mumbai (Bombay) hergestellt werden, nennt man sie in Anlehnung an Hollywood auch kurz Bollywoodfilme.
Bollywood gilt als Vorbild nicht nur für die regionalen Filmstätten Indiens, sondern auch für Großteile des gesamtasiatischen Raums. Viele Regisseure und Künstler aus Nepal, Sri Lanka und Pakistan zieht es in diese Filmkapitale. Den Spitznamen Bollywood verpasste dem indischen Kommerzkino in den 80er Jahren ein Journalist des indischen Filmmagazin Cineblitz. Einige Filmkritiker, die das realistischere und kritischere Kunstkino bevorzugten, verwendeten ihm dann als Schimpfwort. Deshalb gehörte der Begriff lange als Zeit nicht Vokabular der Kritiker, die das indische Kommerzkino positiv bewerteten. Sie weigerten sich, ihn zu benutzen, weil sie glaubten, man würde damit Hollywood und Bollywood in einem gemeinsamen Topf werfen und dann behaupten, dass Konventionen und Stars austauschbar seien. Doch ungeachtet der vielen Proteste und Kritiken hat sich der Terminus überall verbreitet und inzwischen auch eine Umbewertung ins Positive erfahren. Vor allem in der letzten Zeit, seit man im Ausland Erfolg hat und Flagge zeigen kann, schmück man sich gern mit Markenzeichen Bollywood. Viele Inder finden es Heute angebracht, Bollywood mit Hollywood zu vergleichen, weil beide Industrien Filme mit großem Unterhaltungswert für riesiges Publikum produzieren.
Der typische Stil der Bollywoodfilmindustrie ist der so genannte Masala-Film. Diese erfolgreiche Filmspezialität Mumbais wurde nach einer indischen Currymischung benannt. Der Film soll den Zuschauer durch die bunte Palette von Emotionen führen. Die Masala-Filme sind Melodramen, die aus weiteren verschiedenen Genrefragmenten zusammengesetzt sind, mit dem einen oder anderen Schwerpunkt. Ob Thriller, Romantik, Action oder Komödie- für jeden Geschmack soll das Passende dabei sein; jedem soll etwas geboten werden. Daher wird der Masala-Film auch Multi-Genrefilm genannt.
Die Mischung dieses Multi-Genrefilms ist es, die die Bollywoodfilme so einzigartig macht. Das indische Publikum hat jedoch einen überaus kritischen Geschmack, was gute Filme betrifft. Von circa 180 schaffen es nur etwa 8 Filme in die begehrte Chartliste der Boxoffice. Die Produktionskosten für ein extravagantes Masala-Movie betragen heutzutage etwa 200 Millionen Rupien; das sind etwa 4,6 Millionen US Dollar, so viel wie allein ein durchschnittlicher Hollywoodstar als Gage bekommt.
Obwohl den Masala-Filmen der Ruf der Eindimensionalität vorauseilt, erwartet das indische Publikum doch eine ganze Menge von ihnen; fabelhafte orginelle Musikkompositionen, aufregende Schauplätze, hervorragende Stars und Tanzszenen und möglichst eine Geschichte, die alle, von Großmutter bis zum Enkel, vom indischen New Yorker Yuppie bis zum Bauern in Bihar, anspricht. Den richtigen Geschmack der Massen zu treffen, bleibt daher eine wahre Kunst und Herausforderung, denn das absolute Rezept gibt es nicht.
Im Gegensatz zu Hollywood, wo amerikanische Kassenschlager schon bald in Vergessenheit geraten, sind die Bollywoodfilme wesentlich langlebiger. Ein echter Bollywoodfan geht mindestens ein Dutzend Mal in ein und denselben Film. Nirgendwo auf der Welt hat das Kino eine so große Bedeutung wie in Indien.
Der Zauber von Geschichten hat auf die mündliche Überlieferung Indiens immer schon eine besondere Faszination ausgeübt. Auch heutzutage ist es noch Brauch, metaphysische, soziale und psychologische Themen in Form von Geschichten und Metaphern wiederzugeben.
Die indische Denkkultur bevorzugt gegenüber der westlichen die Bildersprache. Laut Sudhir Kakar, einem renommierten indischen Psychologen, sind in Indien abstrakte, konzeptionelle Formulierungen eher nicht gebräuchlich. Es ist üblich, komplexe Angelegenheiten in Form von Geschichten darzustellen, da auf diese Weise Vorstellungskraft und Gefühle stärker angesprochen und Zusammenhänge verständlicher werden, vergleichbar mit unseren Märchen und Sagen. Die Erzählung ist für den Inder eine Form zur Erkundung der Wirklichkeit. Die Inder glauben, dass jenseits der miteillbaren, empirischen Wirklichkeit unsere Welt eine andere, höhere Stufe der Wirklichkeit existiert. Diese Wirklichkeit liegt jenseits des intellektuellen Verstandes und rationaler Systeme.
Das Erreichen dieser Bewusstseinsebene gilt als höchstes Ziel des menschlichen Lebens. Aus diesem Grund haben bei den Indern Kunst, Meditation und Religion einen sehr hohen Stellenwert. Gut erzählte Geschichten und Musik machen mystische Erfahrung greifbarer. Populäre Filme oder moderne Romane präsentieren in zeitgenössischer Aufmachung traditioneller gesellschaftliche Anliegen.
Die Art und Weise, wie traditionell Inder in ihrer Erzählkultur verwurzelt sind, ist für den modernen westlichen Menschen schwer nachzuvollziehen. Wer den indischen Menschen mit seinen Vorlieben, seinen Sehnsüchten und Ängsten Verstehen will, muss die Bedeutung seiner Geschichten kennen. Ihre im Kino erzählten Geschichten spiegeln nicht nur die Phantasie, sondern auch wahre Begebenheiten wieder, die irgendwann einmal gehört, gesehen oder erlebt wurden. Das Kino setzt sie filmgerecht um.
HISTORICHER HINTERGRUND FÜR DIESES PHÄNOMEN
Indien ist mit etwa einer Milliarde Einwohnern neben China das bevölkerungsreichste Land der Welt. Es ist etwa neunmal so groß wie die Bundesrepublik Deutschland. Auf Europa übertragen entspräche es einer Ausdehnung von Brüssel nach Moskau und von Kopenhagen nach Tunis. Die größten Städte sind Mumbai mit circa 16 Mio. Einwohnern, Kolkota mit circa 13 Mio. Einwohnern und Delhi mit circa 14 Mio. Einwohnern.
Den typischen Inder gibt es genauso wenig wie den typischen Europäer. Indien beherbergt ein buntes Völkergemisch aus Ureinwohnern, den so genannten Adivasi (Siedler unterschiedlicher ethnischer Abstammung), den Drawiden, deren wahre Herkunft ungeklärt ist und die zum größten Teil in Südindien leben, und den Nachfahren der Indo-Arier(Arya) aus Zentralasien, die sich in Nord und in Zentralasien niederließen. Nicht zu vergessen sind die Einwanderer wie Hunnen, Türken, Afghanen, Perser, Franzosen, Niederländer, Briten, Juden und Dänen. So findet man Menschen vom gedrungenen Kleinwüchsigen bis zum schlanken, hünenhaften Typus, vom dunkel bis zum hellen Hauttyp.
In Indien gibt es circa 225 verschiedene Sprachen, circa 845 Dialekte, von denen einige noch unerforscht sind, 18 offiziell anerkannte Amtssprachen und 11 verschiedene Schriftsysteme, die sich von Region zu Region unterscheiden. Wenn ein Inder mit dem Zug oder dem Bus durch verschiedene Gebiete seines Landes fährt, kommt er sich sprachlich und teilweise auch kulturell wie im Ausland vor. Die Regionen Indiens unterscheiden sich deutlicher voneinander als die verschiedenen Länder Europas.
Bevor die Briten Indien 1858 offiziell ihrer Herrschaft unterwarfen, gab es in diesem Land weder ein Staatsbezeichnung noch ein Staatsbewusstsein. Die Einwohner nannten es Hindustan(Land der Hindus) oder Bharat nach der königlichen Familie aus dem Mahabarata-Epos. Bis dahin war das riesige Gebiet in eine Vielzahl rivalisierender Fürstentümer aufgespalten und bestenfalls kulturell miteinender verbunden, Einheimische, die an britischen Schulen für den Verwaltungsdienst der Fremdherrschaft herangebildet wurden, hörten durch ihrer Lehrer erstmals, sie seien- unabhängig von ihrer sehr verschiedenen lokalen Traditionen- Inder.
Die Briten schufen völlig neue Voraussetzungen für die gesellschaftliche Entwicklung und die Handelsbeziehungen innerhalb des Landes. Um ihr Herrschaftsgebit besser verwalten zu können, ließen sie Eisenbahnlinien und Straßen durch den Subkontinent bauen. Zum ersten Mal wurden damit unterschiedliche Regionen miteinender verbunden und durch eine einheitliche Amtssprache und Verwaltung zusammen geführt. Die Briten schufen einen riesigen Verwaltungsapparat, der sich im Lauf der Zeit zurgrößten Bürokratie der Welt entwickelt hat. Der britische Einfluss war so groß, dass die indische Bürokratie selbst ein halbes Jahrhundert nach der Unabhängigkeit immer noch weiter wächst. In Indien gibt es heute über 40 Millionen Beamte.
Zur Zeit der indischen Unabhängigkeit in der 20er und 30er Jahren visierten Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru einen indischen Nationalstaat an, in dem sich die Bewohner unabhängig von ihrer Religion und ethnischen Zugehörigkeit selbstbewusst als Inder fühlen konnten. Was die Reformer propagierten, musste den vielen Millionen Menschen, die vorher nie mit westlichem Denken in Berührung gekommen waren, so fremd erschienen wie das Englische als überregionale Sprache. Vielen Bewohnern indischer Kleinstädte und Dörfer war der moderne Nationalsprache Indien noch um vieles abstrakter als uns der Begriff Europa. Sie identifizierten sich mit ihrer Kaste und dem überschaubaren Bezirk ihres Dorfes oder ihrer Stadt. Ihre Orientierung blieb vorwiegend an ihre ethnische Kultur- und Sprachgrenze gebunden.
Wie kommt es nun, dass in einem Land mit solchen sprachlichen, religiösen und kulturellen Differenzen der populäre Hindifilm die dominante Form der Unterhaltung geworden ist? Die Genialität der populären Bollywoodfilme besteht darin, dass sie eine multikulturellen und kosmopolitische Atmosphäre erschaffen, in der gravierende Unterschiede, wie Kaste, Religion, Kultur und Sprache überwunden werden. Es entsteht eine Pan - Indien - Kultur, wobei vor allem Musik, Gesang und Tanz eine übergreifende und ausschlaggebende Rolle spielen. Das populäre indische Kino verbindet Bilder und Symbole aus traditionellen regionalen Kulturen mit modernen, westlichen Themen und aktuellen Zeitgeschehen.
Javed Akthar, Indiens berühmtester Drehbuchautor, erklärt das so: „ Indien ist ein Land, in dem es viele Kulturen, Sprachen, Subkulturen und Bundesstaaten gibt. Jeder hat seine eigene Identität, Kultur und Sprache. Genauso ist es mit dem Hindikino- mit ihm ist es wie mit weiteren Kultur, einem weiteren Ethos und einem Bundesstaat (…) Das Hindikino hat seine eigenen Traditionen, seine eigene Kultur und Sprache. Es ist jedoch im übrigen Indien nicht fremd, sondern vertraut und wieder erkennbar, und man kann sich damit identifizieren. Sagen wir, das Hindikino ist unser nächster Nachbar (…)“.
Das Hindikino gab Indien eine nationale Stimme und half, ein Nationalgefühl in Indien aufzubauen, das die Menschen einander nicht nur kulturell und sprachlich, sondern auch politisch näher brachte. Der Weg dieses Bewusstseinprozesses spiegelt sich in seinen Filmen wider. Jeder, der das komplexe Phänomen des indischen Modernisierungsprozesses verstehen will, sollte deshalb die indische Filmgeschichte studieren.
Mumbai – Metropole des populären, erfolgreichen Hindifilms
Mit Hindifilmen sind kommerzielle, populäre hindi-sprachige Filme gemeint, die vor allem in Mumbai produziert werden. Aufgrund Herrschenden Sprachbarrieren haben sich weitere regionale Filmproduktionsstätten in Chennai, Delhi, Hyderabad und Kalkota entwickelt. Zwischen diesen regionalen Produktionstätten findet ein Austausch von erfolgreichen Filmen statt. Kassenknüller von einer Region werden in einer anderen Region entweder nachsynchronisiert oder es wird ein Remake von ihnen gemacht. Das indische Kommerzkino ist gemessen an seinem Produktionsausstoß inzwischen das größte der Welt. Jährlich entstehen zwischen 700 und 1000 Spielfilme. Da die bekanntesten und erfolgreichsten Filme jedoch in Mumbai (Bombay) hergestellt werden, nennt man sie in Anlehnung an Hollywood auch kurz Bollywoodfilme.
Bollywood gilt als Vorbild nicht nur für die regionalen Filmstätten Indiens, sondern auch für Großteile des gesamtasiatischen Raums. Viele Regisseure und Künstler aus Nepal, Sri Lanka und Pakistan zieht es in diese Filmkapitale. Den Spitznamen Bollywood verpasste dem indischen Kommerzkino in den 80er Jahren ein Journalist des indischen Filmmagazin Cineblitz. Einige Filmkritiker, die das realistischere und kritischere Kunstkino bevorzugten, verwendeten ihm dann als Schimpfwort. Deshalb gehörte der Begriff lange als Zeit nicht Vokabular der Kritiker, die das indische Kommerzkino positiv bewerteten. Sie weigerten sich, ihn zu benutzen, weil sie glaubten, man würde damit Hollywood und Bollywood in einem gemeinsamen Topf werfen und dann behaupten, dass Konventionen und Stars austauschbar seien. Doch ungeachtet der vielen Proteste und Kritiken hat sich der Terminus überall verbreitet und inzwischen auch eine Umbewertung ins Positive erfahren. Vor allem in der letzten Zeit, seit man im Ausland Erfolg hat und Flagge zeigen kann, schmück man sich gern mit Markenzeichen Bollywood. Viele Inder finden es Heute angebracht, Bollywood mit Hollywood zu vergleichen, weil beide Industrien Filme mit großem Unterhaltungswert für riesiges Publikum produzieren.
Der typische Stil der Bollywoodfilmindustrie ist der so genannte Masala-Film. Diese erfolgreiche Filmspezialität Mumbais wurde nach einer indischen Currymischung benannt. Der Film soll den Zuschauer durch die bunte Palette von Emotionen führen. Die Masala-Filme sind Melodramen, die aus weiteren verschiedenen Genrefragmenten zusammengesetzt sind, mit dem einen oder anderen Schwerpunkt. Ob Thriller, Romantik, Action oder Komödie- für jeden Geschmack soll das Passende dabei sein; jedem soll etwas geboten werden. Daher wird der Masala-Film auch Multi-Genrefilm genannt.
Die Mischung dieses Multi-Genrefilms ist es, die die Bollywoodfilme so einzigartig macht. Das indische Publikum hat jedoch einen überaus kritischen Geschmack, was gute Filme betrifft. Von circa 180 schaffen es nur etwa 8 Filme in die begehrte Chartliste der Boxoffice. Die Produktionskosten für ein extravagantes Masala-Movie betragen heutzutage etwa 200 Millionen Rupien; das sind etwa 4,6 Millionen US Dollar, so viel wie allein ein durchschnittlicher Hollywoodstar als Gage bekommt.
Obwohl den Masala-Filmen der Ruf der Eindimensionalität vorauseilt, erwartet das indische Publikum doch eine ganze Menge von ihnen; fabelhafte orginelle Musikkompositionen, aufregende Schauplätze, hervorragende Stars und Tanzszenen und möglichst eine Geschichte, die alle, von Großmutter bis zum Enkel, vom indischen New Yorker Yuppie bis zum Bauern in Bihar, anspricht. Den richtigen Geschmack der Massen zu treffen, bleibt daher eine wahre Kunst und Herausforderung, denn das absolute Rezept gibt es nicht.
Im Gegensatz zu Hollywood, wo amerikanische Kassenschlager schon bald in Vergessenheit geraten, sind die Bollywoodfilme wesentlich langlebiger. Ein echter Bollywoodfan geht mindestens ein Dutzend Mal in ein und denselben Film. Nirgendwo auf der Welt hat das Kino eine so große Bedeutung wie in Indien.
Der Zauber von Geschichten hat auf die mündliche Überlieferung Indiens immer schon eine besondere Faszination ausgeübt. Auch heutzutage ist es noch Brauch, metaphysische, soziale und psychologische Themen in Form von Geschichten und Metaphern wiederzugeben.
Die indische Denkkultur bevorzugt gegenüber der westlichen die Bildersprache. Laut Sudhir Kakar, einem renommierten indischen Psychologen, sind in Indien abstrakte, konzeptionelle Formulierungen eher nicht gebräuchlich. Es ist üblich, komplexe Angelegenheiten in Form von Geschichten darzustellen, da auf diese Weise Vorstellungskraft und Gefühle stärker angesprochen und Zusammenhänge verständlicher werden, vergleichbar mit unseren Märchen und Sagen. Die Erzählung ist für den Inder eine Form zur Erkundung der Wirklichkeit. Die Inder glauben, dass jenseits der miteillbaren, empirischen Wirklichkeit unsere Welt eine andere, höhere Stufe der Wirklichkeit existiert. Diese Wirklichkeit liegt jenseits des intellektuellen Verstandes und rationaler Systeme.
Das Erreichen dieser Bewusstseinsebene gilt als höchstes Ziel des menschlichen Lebens. Aus diesem Grund haben bei den Indern Kunst, Meditation und Religion einen sehr hohen Stellenwert. Gut erzählte Geschichten und Musik machen mystische Erfahrung greifbarer. Populäre Filme oder moderne Romane präsentieren in zeitgenössischer Aufmachung traditioneller gesellschaftliche Anliegen.
Die Art und Weise, wie traditionell Inder in ihrer Erzählkultur verwurzelt sind, ist für den modernen westlichen Menschen schwer nachzuvollziehen. Wer den indischen Menschen mit seinen Vorlieben, seinen Sehnsüchten und Ängsten Verstehen will, muss die Bedeutung seiner Geschichten kennen. Ihre im Kino erzählten Geschichten spiegeln nicht nur die Phantasie, sondern auch wahre Begebenheiten wieder, die irgendwann einmal gehört, gesehen oder erlebt wurden. Das Kino setzt sie filmgerecht um.
HISTORICHER HINTERGRUND FÜR DIESES PHÄNOMEN
Indien ist mit etwa einer Milliarde Einwohnern neben China das bevölkerungsreichste Land der Welt. Es ist etwa neunmal so groß wie die Bundesrepublik Deutschland. Auf Europa übertragen entspräche es einer Ausdehnung von Brüssel nach Moskau und von Kopenhagen nach Tunis. Die größten Städte sind Mumbai mit circa 16 Mio. Einwohnern, Kolkota mit circa 13 Mio. Einwohnern und Delhi mit circa 14 Mio. Einwohnern.
Den typischen Inder gibt es genauso wenig wie den typischen Europäer. Indien beherbergt ein buntes Völkergemisch aus Ureinwohnern, den so genannten Adivasi (Siedler unterschiedlicher ethnischer Abstammung), den Drawiden, deren wahre Herkunft ungeklärt ist und die zum größten Teil in Südindien leben, und den Nachfahren der Indo-Arier(Arya) aus Zentralasien, die sich in Nord und in Zentralasien niederließen. Nicht zu vergessen sind die Einwanderer wie Hunnen, Türken, Afghanen, Perser, Franzosen, Niederländer, Briten, Juden und Dänen. So findet man Menschen vom gedrungenen Kleinwüchsigen bis zum schlanken, hünenhaften Typus, vom dunkel bis zum hellen Hauttyp.
In Indien gibt es circa 225 verschiedene Sprachen, circa 845 Dialekte, von denen einige noch unerforscht sind, 18 offiziell anerkannte Amtssprachen und 11 verschiedene Schriftsysteme, die sich von Region zu Region unterscheiden. Wenn ein Inder mit dem Zug oder dem Bus durch verschiedene Gebiete seines Landes fährt, kommt er sich sprachlich und teilweise auch kulturell wie im Ausland vor. Die Regionen Indiens unterscheiden sich deutlicher voneinander als die verschiedenen Länder Europas.
Bevor die Briten Indien 1858 offiziell ihrer Herrschaft unterwarfen, gab es in diesem Land weder ein Staatsbezeichnung noch ein Staatsbewusstsein. Die Einwohner nannten es Hindustan(Land der Hindus) oder Bharat nach der königlichen Familie aus dem Mahabarata-Epos. Bis dahin war das riesige Gebiet in eine Vielzahl rivalisierender Fürstentümer aufgespalten und bestenfalls kulturell miteinender verbunden, Einheimische, die an britischen Schulen für den Verwaltungsdienst der Fremdherrschaft herangebildet wurden, hörten durch ihrer Lehrer erstmals, sie seien- unabhängig von ihrer sehr verschiedenen lokalen Traditionen- Inder.
Die Briten schufen völlig neue Voraussetzungen für die gesellschaftliche Entwicklung und die Handelsbeziehungen innerhalb des Landes. Um ihr Herrschaftsgebit besser verwalten zu können, ließen sie Eisenbahnlinien und Straßen durch den Subkontinent bauen. Zum ersten Mal wurden damit unterschiedliche Regionen miteinender verbunden und durch eine einheitliche Amtssprache und Verwaltung zusammen geführt. Die Briten schufen einen riesigen Verwaltungsapparat, der sich im Lauf der Zeit zurgrößten Bürokratie der Welt entwickelt hat. Der britische Einfluss war so groß, dass die indische Bürokratie selbst ein halbes Jahrhundert nach der Unabhängigkeit immer noch weiter wächst. In Indien gibt es heute über 40 Millionen Beamte.
Zur Zeit der indischen Unabhängigkeit in der 20er und 30er Jahren visierten Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru einen indischen Nationalstaat an, in dem sich die Bewohner unabhängig von ihrer Religion und ethnischen Zugehörigkeit selbstbewusst als Inder fühlen konnten. Was die Reformer propagierten, musste den vielen Millionen Menschen, die vorher nie mit westlichem Denken in Berührung gekommen waren, so fremd erschienen wie das Englische als überregionale Sprache. Vielen Bewohnern indischer Kleinstädte und Dörfer war der moderne Nationalsprache Indien noch um vieles abstrakter als uns der Begriff Europa. Sie identifizierten sich mit ihrer Kaste und dem überschaubaren Bezirk ihres Dorfes oder ihrer Stadt. Ihre Orientierung blieb vorwiegend an ihre ethnische Kultur- und Sprachgrenze gebunden.
Wie kommt es nun, dass in einem Land mit solchen sprachlichen, religiösen und kulturellen Differenzen der populäre Hindifilm die dominante Form der Unterhaltung geworden ist? Die Genialität der populären Bollywoodfilme besteht darin, dass sie eine multikulturellen und kosmopolitische Atmosphäre erschaffen, in der gravierende Unterschiede, wie Kaste, Religion, Kultur und Sprache überwunden werden. Es entsteht eine Pan - Indien - Kultur, wobei vor allem Musik, Gesang und Tanz eine übergreifende und ausschlaggebende Rolle spielen. Das populäre indische Kino verbindet Bilder und Symbole aus traditionellen regionalen Kulturen mit modernen, westlichen Themen und aktuellen Zeitgeschehen.
Javed Akthar, Indiens berühmtester Drehbuchautor, erklärt das so: „ Indien ist ein Land, in dem es viele Kulturen, Sprachen, Subkulturen und Bundesstaaten gibt. Jeder hat seine eigene Identität, Kultur und Sprache. Genauso ist es mit dem Hindikino- mit ihm ist es wie mit weiteren Kultur, einem weiteren Ethos und einem Bundesstaat (…) Das Hindikino hat seine eigenen Traditionen, seine eigene Kultur und Sprache. Es ist jedoch im übrigen Indien nicht fremd, sondern vertraut und wieder erkennbar, und man kann sich damit identifizieren. Sagen wir, das Hindikino ist unser nächster Nachbar (…)“.
Das Hindikino gab Indien eine nationale Stimme und half, ein Nationalgefühl in Indien aufzubauen, das die Menschen einander nicht nur kulturell und sprachlich, sondern auch politisch näher brachte. Der Weg dieses Bewusstseinprozesses spiegelt sich in seinen Filmen wider. Jeder, der das komplexe Phänomen des indischen Modernisierungsprozesses verstehen will, sollte deshalb die indische Filmgeschichte studieren.
DIE BASIS: RELIGION UND KULTUR
Um indische Filme und die Entwicklung der indischen Filmindustrie besser nachvollziehen und verstehen zu können, ist es notwendig, zunächst einen Blick auf die religiösen und kulturgeschichtlichen Gegebenheiten zu werfen, da diese das Fundament der Kinotradition bilden. Die Eigenart bzw. tiefere Bedeutung der indischen Filmsprache basiert vor allem auf den Werten der hinduistischen Religion, dem Fundus ihrer Mythologie und dem Parsi- Theater.
BEDEUTUNG DER RELIGION
Die Religion durchdringt jeden Aspekt des indischen Alltags, unabhängig von der Religionszugehörigkeit. Jeder Hindifilm veranschaulicht dies, ständig sieht man Szenen, in denen Menschen in den Tempel gehen oder vor dem Hausaltar beten. Ebenso haben alle Feste und Rituale, die gezeigt werden, eine religiöse Bedeutung. Filme wie Fiza, Bombay oder Mission Kashmir thematisieren Religionskonflikte zwischen Hindus und Moslems. Also Grund genug, sich etwas näher mit der vorherrschenden, nämlich der hinduistischen Religion zu beschäftigen.
Etwa 83 Prozent der indischen Bevölkerung gehören der hinduistischen Glaubensrichtung an, gefolgt von der zweitstärksten Religionsgruppe, den Moslems mit circa 11 Prozent, die restlichen Prozente teilen sich Christen, Buddhisten, Jainis, und andere Glaubensrichtungen. Der Glaube, ungeachtet der jeweiligen Religionszugehörigkeit, spielt im Leben fasst alle Inder eine zentrale Rolle. Atheisten stoßen in Indien auf Unverständnis.
Der Hinduismus ist die älteste Religion Indiens, er beeinflusste vor allem thematisch das indische Kino. Im Gegensatz zum Christentum kann man nicht zum Hinduismus übertreten, wie etwa durch die Taufe, sondern man wird als Hindu geboren. Von Bedeutung dabei ist, dass bereits der Vater des Kindes ein Hindu ist.
Was versteht man eigentlich unter Hinduismus? Der Hinduismus ist für Außenstehende wahrscheinlich die verwirrendste aller Weltreligionen: Da einmal die unermessliche Anzahl verschiedener Götter und Göttinnen, dann die zahlreichen Riten und schließlich die nicht minder vielen verschiedenen Wege zu Erlösung, - von denen sich einige sogar widersprechen und gegenseitig anzuschließen scheinen. Der heutige Hinduismus ist das Ergebnis einer Vermischung verschiedenen Kulturen.
Auch den Hindus fällt die Definition ihrer Religion schwer.1903 versuchte ein konstitutioneller Beirat erstmals, den Hinduismus zu definieren. Dabei fand man heraus, dass es leichter ist, zu definieren, wer kein Hindu ist, als das Gegenteil. Die Ungenauigkeit beginnt schon beim Namen selbst, der lediglich eine geografische Bezeichnung ist. Das alte Indien grenzt e im Westen an Fluss Sind (auch Sindhu oder Indus geschrieben) und wurde von den westlichen Nachbarn der Inder Hind ausgesprochen. Das S am Wortanfang wurde getilgt. Die Bewohner der Region östlich des Sind wurden somit als Hindus bezeichnet, und entstand der Name, der danach für viel Verwirrung sorgte. Die Religionsbezeichnung Hinduismus von Europäern erfunden. Man versteht darunter den Verbund von Religionen und Lebensphilosophien unterschiedlicher Traditionen und Strömungen eingewanderter halbnomadischer indoarischer Völker und drawidischer Einheimischer.
GLAUBENSINHALT DES HINDUISMUS
Der Hinduismus kennt weder einen Religionsstifter noch einen einheitlichen, unveränderbaren Kanon an Texten. Relativität und Pluralität sind Grundzüge des Hinduismus. Die Inder selbst bezeichnen ihre Religion als Sanatana Dharma (ewige Ordnung). Kernpunkte dieser Ordnung sind Dharma, Karma, Maya sowie Widergeburt und Entsagung.
Der Hinduismus zeigt ein ganzheitliches Weltbild, in dem alles mit allem verbunden ist. Dharma ist die kosmische Ordnung, die alles zusammenhält, was erschaffen wurde, ohne jedoch dabei absolut perfekt und vollkommen zu sein. Der Mensch ist nicht wie im Christentum Krone der Schöpfung, sondern nur ein Teil, das heißt, alle Lebewesen besitzen eine Seele, sind unvergänglich und können sich in jeglichem Körper reinkarnieren.
Jede Handlung, jeder Gedanke führt zu der jeweiligen Konsequenz, auch Karma genannt (Karma ist das Gesetz von Ursache und Wirkung). Wie jeder Einzelne damit umgeht, bleibt ihm überlassen und sein persönliches Karma. Der Mensch ist das Produkt seiner Taten in einer Unzahl von vorherigen Leben, deshalb ertragen die meisten Hindus soziale Diskrepanzen mit Glauben und Vertrauen.
Maya bedeutet Illusion. Die Götter lassen den Durchschnittsmenschen nur das sehen, was er sehen soll. Die Weisen sind einzige Menschen, denen es nach vielen Jahren Askese gelingen kann, den Zauber der göttlichen Illusionen zu brechen. In Wirklichkeit sind wir und Dinge um uns herum nichts weiter als vielfältige vorhandene Visionen und Emanationen des göttlichen Geistes Brahma.
Das Ziel eines jeden Hindu ist es, sich aus dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburten (samsara) zu befreien und das Göttliche in sich zu erwecken. Man wird so lange wiedergeboren, bis dieses Ziel erreicht ist. Gefährdet wird dieser Weg durch Kama (Begierde/ egoistisches Verlangen), Lobha (Geiz), Krodha (Zorn) und Bhaya (Angst). Im Hinduismus geht es nicht in erster Linie um Dogmen und Glaubenssätze, sondern um richtiges handeln und um bestimmte Pflichten, die man gegenüber den Göttern, der Gesellschaft sowie der Familie zu erfüllen hat.
Auf dem Weg zum Endziel sollte der Gläubige etappenweise vorgehen, da man nur schwer in wenigen Leben das Moksha(Befreiung von irdischer Existenz) erreichen kann. Etappenziele wären z .B: Artha(Wohlstand, Ruhm) und Drahma(Rechtschaffenheit).
HEILIGE SCHRIFTEN DER HINDUS
Heilige hinduistische Texte werden in zwei Kategorien unterteilt: In jene, von denen man glaubt, sie seien Worte der Götter (shruti), und jene, die von Brahmanen(Priestern) geschrieben wurden (smriti). Die Veden, die von den siegreichen eingewanderten Ariern mitgebracht wurden, werden als Shruti- Wissen angesehn und gelten als maßgebliche Grundlage für den Hinduismus. Die Veden sind eine Sammlung von Hymnen, die in vorklassischen Sanskrit während des zweiten Jahrtausends v. Chr. Verfasst wurden, nachdem sie Jahrtausende zuvor mündlich weitergegeben worden waren.
Die Hymnen sind in vier Bücher unterteilt, von denen das älteste Veda, das Rigveda (erste Veda), vor mehr als 5000 Jahren zusammengestellt worden ist. Es besteht aus 1028 Versen und enthält Gebete und Mantras sowie Erklärungen über den Ursprung des Universums. Die Smriti- Texte, die von den Brahmanen verfasst wurden, umfassen eine große Literatursammlungen aus vielen Jahrhunderten und beinhalten Darlegungen über die richtige Ausführung von traditionellen und religiösen Zeremonien. Zu bekannten Werken, die in diesen Smriti- Schriften enthalten sind, gehören die mythologischen Epen Mahabharata und Ramayana.
DIE UNERSCHÖPFLICHE FUNDGRUBE DES INDISHEN KINOS
Das Indische Kino ist eine Montage untrennbarer mythologischer Einflüsse. Viele Geschichten und Ereignisse sowie die episodenhafte Struktur wurden aus indischen Mythologie der Smriti- Schriften übernommen. Figuren und Charaktere der Epen dienen dem indischen Kino bis heute als Rollenmodelle.
Mahabharata und Ramayana sind gemeinsames Erbe des Subkontinents und haben tief die Denkweise und die Vorstellung der Inder beeinflusst. Sie sind die Wächter des Glaubens und der sozialen Werte und bilden die Brüücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. In Indien gibt es ein Sprichwort, das besagt: „Jaha Nai Bharate (Indien), Taha Nai Bharate (Mahabharata)“- alles, was nicht in Indien zu finden ist, das wird auch nicht im Mahabharata zu finden sein.
MAHABHARATA ( Große Geschichte der Bharatas)
Das Mahabharata ist mit 100.000 zweizeiligen Versen das umfangreichste Epos der Hindus und auch der Weltliteratur. Es ist achtmal so lang wie die griechischen Epen Ilias und Odyssee zusammen und entstand vor etwa 4000 Jahren. Es ist eine Sammlung in der Sprache des Sanskrit und besteht aus verschiedenen Mythen, Legenden und Bräuchen aus vor arischer Zeit. Autor war der heilige und weise Dichter Krishna Dvaipayana Vyasa, der der Legende nach den Inhalt von Gott Ganesha in einer Vision übermittelt bekam. Später soll er die Texte an seinen Sohn und Schüler Vaishyampayana weitergegeben haben. Anfangs war das Mahabharata eine kurze Ballade in Prosaform. Im Verlaufe der Jahrhunderte wurde es ständig erweitert. Die letzten Verse wurden um das Jahr 500 n. Chr. eingeführt. Es existiert jedoch keine Standartversion. Neben den bekannten weit verbreiteten nordindischen und südindischen Versionen gibt es noch etliche weitere lokale Varianten. Die Anzahl der Versionen wird auf 1300 geschätzt. Selbst innerhalb einzelner Versionen trifft man oft auf widersprüchliche Doktrinen, denen verschiedene Quellen aus unterschiedlichen Epochen zugrunde liegen.
Der Name Mahabharata bezieht sich auf die Bharathas- die Nachkommen des Königs Bharatha. Mahabharata bedeutet auch „Großindien“. Bharat (avarsha) war der alte Name Indiens und wird heute offiziell für den Staat Indien benutzt.
Das Epos besteht aus achtzehn Büchern (paria) und einen Anhang (khila).
Die Rahmenhandlung bildet die große Schlacht zweier verfeindeter königlicher Großfamilie, den Kauravas und den Pandavas im Königreich Kuru (Kuruksaetra, heutiges Delhi): König Bharata hatte zwei Söhne, Dhritarashtra und Pandu. Wie so oft in der Geschichte der Menschheit war auch hier der Auslöser für den Kampf die Aufteilung des Königreichs. Der ältere Königsohn Dhritarashtra war blind und durfte der Sitte wegen nicht regieren, obwohl er der rechtmäßige König gewesen wäre. Der Herrscher beschloss, den jüngeren Sohn Pandu zunächst zum Regenten zu erklären. Dieser wollte jedoch nicht König werden, sondern entschied sich für ein Leben in der Einsiedelei. Daraufhin wurde doch Dhritarashtra als König eingesetzt. Er bekam 100 Söhne, die allesamt den Bösen anheim fielen. Nach der Zeit des Eremitendaseins heiratete Pandu und bekam fünf Söhne, die alle edel und gut wurden. Nun sollten Pandavas, seine Nachkommen, das land regieren, bzw. der der älteste Sohn der Pandavas, Yudhishthira, doch die Söhne des blinden Königs, die Kauravas, verschwörten sich gegen sie. Aus Bedrängnis verließen die Pandavas zunächst das Reich und wurden Söldner an anderen königlichen Höfen. Nach einiger Zeit kamen sie jedoch zurück und fochten mit den Kauravas eine gewaltige Schlacht aus, die nach achtzehn Tagen zu ihren Gunsten entschieden wurde. Die Pandavas stehen somit für Dharma, die religiöse Rechtschaffenheit, die Kauravas Familie Adharma, das Böse und Unrechte.
Ein Hauptkapitel des Mahabharata ist die berühmte Bhagavad Gita(Lied Gottes). Hier wird von Krishna erzählt, der Arjuna, dem Befehlshaber der Pandava Armee, als göttlicher Ratgeber erscheint. Am Vorabend des Gefechts wird Arjuna von Zweifeln befallen, da er nicht gegen seine Verwandten kämpfen möchte. In dieser Situation belehrt ihn Krishna über die Unsterblichkeit der Seele und die Aufgabe, sein dharma, seine heilige Pflicht, zu erfüllen.
Die Lehrrede Krishnas berührt fast alle Fragen des menschlichen Lebens. Dem Menschen werden drei gleichberechtigte Wege aufgezeigt, auf denen er sich verwirklichen soll- intellektuellen (jnana- Weg des Wissens), im emotionalen (bhakti- Weg der Liebe) und im praktischen (karma- Weg der guten Taten).
Die Haupthandlung des Mahabharata enthält zahlreiche Geschichten von Göttern, Helden und heiligen sowie dem ewigen Kampf zwischen guten und bösen Mächten. Das Epos ist nicht nur voll von schrecklichen Schlachten, sondern auch reich an menschlicher Dramatik, tiefen Pathos, tragischen Begegnungen und dem Bewusstsein von einem unentrinnbaren Schicksal. In den klassischen Konflikten sind zahlreiche Nebenhandlungen um Liebe, Hass und Intrigen eingeflochten, so dass dieses Epos als Vorläufer für den Plot eines typischen Hindifilms gelten kann.
RAMAYANA ( Die Geschehnisse um Rama)
Das Ramayana ist neben dem Mahabharata das beliebteste und zweitgrößte Epos. Nicht nur Inder, sondern auch andere Asiaten wie Thais, Indonesier und Malaysier kennen die darin enthaltenen Abenteuer auswendig.
Angeblich ist die legendäre Weise Valmiki, eine Zeitzeuge, der die Helden persönlich gekannt haben soll, der Verfasser des Werkes. Er erwähnt sich selbst im Epos als teilnehmende Beobachter. Eigentlich war er vor seinem Autorendasein ein Räuber, dem dann eines Tages das Glück zuteil wurde, von Hindu- Heiligen Narada auf den Pfad der Tugend zurückgeführt zu werden. Der heilige hatte in Valmiki das Talent zum Poeten zutage gefördert.
Wie auch schon beim Mahabharata existieren von Ramayana unterschiedliche Versionen. Das Epos ist in sieben Teile (kanda) unterteilt, besteht aus 24.000 vierzeiligen Versen und soll etwa um 5000 v. Chr. in Nordindien entstanden sein. Thema ist wie im Bruderepos der Konflikt zwischen den Göttern und Dämonen: Der kinderlose König von Ayodhaya fleht die Götter an, ihm doch einen Sohn zu schenken. Daraufhin bringt seine Frau einen Jungen zur Welt, den sie Rama nennen. Bald stirbt die Mutter, und der König nimmt sich eine andere Gattin. Als Rama alt genug ist, heiratet er die Königstochter Sita von Videha und wird von seinem Vater zum Nachfolger erwähnt. Doch seine neidische, böse Stiefmutter will, dass sein Stiefbruder statt ihm den Thron einnimmt. Infolge von Intrigen wird Rama vierzehn Jahre lang vom Hof verbannt. Er zieht mit seiner Frau Sita und seinem jüngeren Bruder Lakshmana in die Wälder. Eines Tages wird Sita vom Dämonenkönig Ravana nach (Sri) Lanka entführt. In dieser Geschichte erfährt man, dass Rama eigentlich die menschliche Verkörperung des Gottes Vishnu ist, der wieder auf die Welt kam, um den Dämonenkönig zu stürzen. Die bösen Mächte hatten überhand genommen, und Vishnu wollte das Gleichgewicht herstellen. Nach vielen spannenden Abenteuern und mit Hilfe des fliegenden Affenkönigs Sygriva, dem treuen Affengott Hanuman und seinem Affengefolge werden Ravana und das Dämonenheer besiegt und Sita befreit. Doch nach diesem Ereignis zweifelt Rama ständig an Sitas Körperlichen Unschuld und an ihre Treue. Obwohl sie sich als Gegenbeweis einer Feuerprobe auf dem Scheiterhaufen unterzieht und der Feuergott Agni sich weigert, sie zu verbrennen, da sie unschuldig ist, verbannt Rama sie aus seinem Reich. Sie findet Zuflucht bei dem Schreiber Valmiki. Fünfzehn Jahre später begegnet Rama während eines Pferdeopfers einem Zwillingspaar und erkennt in ihren Gesichtern sein Ebenbild. Er bereut die Behandlung seiner Frau und ruft sie nach Ayodhya zurück. Sita beteuert nochmals Ihrer Unschuld und bittet dann Mutter Erde, sie wieder in ihren Schoß aufzunehmen. Der Legende nach ist Sita die Tochter der Erde, die einst beim Pflügen einer Erdscholle erschien. Die Erde öffnet sich und verschluckt Sita. Rama kann den Verlust nicht verkraften und folgt ihr in die Tiefen des Flusses Sarayu, wo sie heute vereint sind.
Rama rief im Verlaufe dieser Geschichte zur Gestalt des Purushottama (vollkommener Mensch) heran. Er gilt als Idealbild des gehorsamen Sohnes und des treuen Ehemannes. Seine Frau Sita steht für das Ideal der getreuen Ehefrau. Sie wird als Göttin der Landwirtschaft verehrt. Ram Leela (Geschichten von Ram) ist ein sehr beliebter Filmstoff, der immer wieder neu variiert wird.
DIE HINDUISTISCHE HAUPTGÖTTER
Die hinduistischen Gottheiten sind fast so zahlreich wie die Sterne im Firmament. Indologen schätzen eine Gesamtzahl von 330 Millionen Gottheiten. Sie verkörpern bestimmte Eigenschaften des kosmischen Bewusstseins. In keiner anderen Religion gibt es so viele Feste und Zeremonien, die zu Ehren der Götter gefeiert werden, wie im Hinduismus. Der Hindu sucht im Gegensatz zum Christen oder Moslems die Gottesbegegnungen meist nicht in der Stille, sondern in orgiastischen Festen mit viel Tanz und Lärm. Die folgenden sieben wichtigsten Gottheiten begegnen einen immer wieder:
Brahman ist die Urkraft und ewige Quelle aller Existenz. Sie manifestieren sich durch das Dharma (ewige Ordnung) und bewirken den ewigen Kreislauf von Entstehen und Vergehen. (Nicht zu verwechseln mit Brahma, dem Schöpfergott, sein Name wurde von Brahman abgeleitet.) Brahman hat im Gegensatz zu allen anderen Göttern keine Attribute. Eine aktive Rolle spielt er nur bei der Schöpfung des Universums. Den Rest der zeit verbringt er mit Meditation. Er besitzt vier gekrönte Köpfe, die in die vier Himmelsrichtungen zeigen. Meist reitet er auf einem Schwan oder meditiert auf einem Lotus. In seinen Vier Händen hält er die vier Veden. Seine Gemahlin ist Saraswati, die Göttin des Lernens.
Vishnu (Bewahrer des Universums) schützt und stützt das Gute in der Welt. Seine Gemahlin ist Lakshimi, die Göttin der Schönheit und des Schicksals. Gewöhnlich wird Vishnu mit mit vier Armen abgebildet, in denen er jeweils einen Lotus, eine Muschelschale, einen Diskus und einen Amtsstab hält. Gemäß der Mythologie hat er sich neunmal auf Erden in verschiedene Formen inkarniert, z.B. als Matsya (Fisch), Krishna, Rama (siehe auch RAMAYANA Epos) und Buddha. Alle Götter sind aus ihm erschaffen, auch Shiva, sein Gegenstück. Die hinduistische Dreifaltigkeit Trimurti lautet: Brahma- Vishnu- Shiva. Alle anderen Götter sind Aspekte von Vishnu.
Shiva ist der Zerstörer und Erneuerer aller dinge und der Gott, der über die Zeit herrscht. Ohne ihn hätte die Schöpfung nicht geschehen können. Mit 1008 Namen nimmt Shiva viele Formen an, z.B. als Vorkämpfer für die Tiere (Pashupati) und Herr des Tanzes (Nataraja). Dargestellt wird er meist als Asket mit verfilztem Haar und einem nackten, mit Asche verschmierten Körper. Auf seiner Stirn leuchtet ein drittes Auge als Symbol für Weisheit, in seiner Hand hält er einen Dreizack (Trishula, Symbol für die drei Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) als Waffe. Sein Gemahlin ist Parvati, die viele Formen annehmen kann. Wegen seiner Großzügigkeit und Ehrfurcht gegenüber Parvati sehen indische Frauen Shiva als ideales Vorbild für einen Ehemann an.
Krishna und Radha
Krishna kämpft für das Wohl auf Erden. Er ist der meist verehrte Gott in Indien. Sein Name bedeutet „schwarz“ und er wird als blauhäutiger Kuhhirte mit Flöte dargestellt, der eine Vorliebe für Milchmädchen hat. Der sinnesfreudige Gott soll insgesamt 16.108 Ehefrauen haben, mit denen er 180.008 Söhne gezeugt hat. Deshalb wird er auch Kanhaiya (Liebhaber von Jungfrauen) genannt. Er gilt als loyal und großzügig und ist bei den indischen Frauen äußerst beliebt. Seine Romanze mit den gosip (Milchmädchen) und seine leidenschaftliche Liebe zu Radha (bekanntestes Milchmädchen) haben Künstler zu zahllosen Bildern, Liedern und Filmen inspiriert.
Hanuman, der Affengott, ist auch ein Held des Ramayana Epos und ein loyaler Verbündeter von König Rama, mit dem er gegen Dämonen kämpft.
Ganesha ist der Sohn von Shiva und Parvati und trägt einen Elefantenkopf. Er ist der Beseitiger von Hindernissen, Schutzheiliger der Schreiber und Gott der Weisheit.
Jeder männlichen Gottheit wird eine Göttin (Shakti, weibliche Energie) zugeordnet, die ihm dazu verhilft, seine Energie zu entfalten. Shivas Gemahlin Parvati ist eine andere Verkörperung der Göttinnen Devi und Durga. Sie symbolisiert in diesen Göttergestalten die gütige göttliche Seite. Parvati tritt aber auch als Göttin Kali in Erscheinung und verkörpert in ihr den blutrünstigen zerstörerischen Aspekt.
Viele der hier genannten Gottheiten kann man immer wieder in den Kulissen der Bollywoodfilme sehen. Im Hinduismus entstehen kurioserweise immer wieder neue Gottheiten, wofür zeitweise auch indische Filme mitverantwortlich sind. In dem Telugufilm „Santhoshi Mata Vratha Mahatyam“(1983) wurde beispielsweise eine Götterfigur namens Santhoshi Mata geschaffen. Die Figur erläutert in diesem Film, sie würde vom Götterpaar Shiva und Parvati abstammen. Sie nahm für sich eine Genealogie in Anspruch, die es eigentlich nicht gab, und wurde tatsächlich von der indischen Bevölkerung in den Pantheon als eine veritable Göttin integriert, obwohl sie in den heiligen Schriften keine Grundlage besitzt. Menschen wenden sich seit diesem Film an sie, um Erfolg und Wohlstand in der modernen städtischen Welt zu erhalten. Zu ihren Ehren fasten ihre Anhänger jeden Freitag.
Die meisten Hindus sind Laien bzw. Analphabeten und der gelehrten Schriften nicht kundig- daher ist es für sie einfacher, göttliche Symbole zu verehren. Es ist üblich, dass jeder Hindu sich eine Lieblingsgottheit auswählt. Beeinflusst wird die Auswahl der Lieblingsgötter von lokalen Traditionen, d.h. Götter, denen im Norden gehuldigt wird, sind oft im Süden nicht bekannt bzw. mit anderem Namen versehen. Ebenfalls ist es üblich, neben dem Lieblingsgott eine Gottheit anzurufen, die nur für bestimmte Situationen zuständig ist, z.B. betet ein eigentlicher Anhänger Krishnas bei Geldmangel zur Göttin Lakshimi.
Jeder Hindu- Tempel ist einer Gottheit geweiht, es ist ein Ort der besonderen Kräfte, deswegen werden dort Heilungen und Geisteraustreibungen vorgenommen. Der Tempel zählt für Hindus zum Mittelpunkt des Lebens. Ein weiteres Merkmal für die Wichtigkeit der Religion ist der Brauch, Orte nach Göttern zu benennen, wie Ganeshpur (Stadt des Ganesha) oder auch Kalkota nach der Göttin Kali. Ebenso werden viele Kinder nach Göttern benannt- wie Sita, Radha, Parvati, Ram oder Krishna. Durch das Rufen und Hören des göttlichen Namens sollen göttliche Eigenschaften in den Hörer und Rufer übergehen und ihm ermahnen, sich dem Göttlichen zuzuwenden.
Hindugötter sind im modernen Indien jetzt sogar Stars von Seifenopern. Auf dem staatlichen Fernsehnkanals Door Dashan läuft mit großer Beliebtheit eine Serie mit Geschichten aus Mahabharata. Selbst die Werbung macht vor ihnen nicht Halt. Von riesigen Plakaten strahlt uns ihr Lächeln entgegen mit dem Slogan: „Shiva verkauft am Besten“ (Mumbai Public Relation).
Dass die Religion jeden Aspekt indischen Lebens durchdringt, sieht man gleichsam an den zahlreichen Pujas (religiöse Zeremonien), die tagtäglich abgehalten werden, um Unglück fernzuhalten. Jede Familie hat in ihrem Haus einen Altar mit Götterfiguren, vor den sie allmorgendlich ihre Opfergaben stellt. Familienmitglieder werden vor dem Verlassen des Hauses gesegnet, und selbst die Filmindustrie lässt vor jedem Drehbeginn eines neuen Films das „Mahurat“, eine religiöse Segenszeremonie, durchführen. Auf diese Weise soll das Filmteam geschützt und der Film ein Erfolg werden. Während der Shradh- Periode (vergleichbar mit Allerheiligen, man gedenkt der Toten und Ahnen) lassen Produzenten ihre Filme nicht anlaufen. Bei den Dreharbeiten tragen viele Schauspieler Glücksbringer wie Schlangen oder Ringe mit sich, und einige Maskenbildner machen ein Tikka (roten Punkt) auf den Spiegel, ehe sie mit dem Make up beginnen. Und wenn man fragt, weswegen so viele Filme den Buchstaben K im Filmtitel haben, dann bekommt man zur Antwort, dass dieser Buchstabe besonders energiereich und vital sei.
DAS KASTENSYSTEM
Ein weiterer Teil des Hinduismus ist das Kastenwesen. Die Bedeutung des Kastensystems in Bezug auf indische Filme ist wichtig, weil viele Werke der indischen Filmgeschichte sich bis heute mit diesem Thema auseinandersetzen. Das zeigt vor allem Stoff „Devdas“, der zwischen 1928 und 2002 immer wieder verfilmt wurde und der Liebesgeschichte eines Paares handelt, das aufgrund des Kastengebots nicht zusammen leben darf. Auch der für den Oscar nominierte Film „Lagaan“ (2001) zeigt die Ausgrenzung Kastenloser (Unberührbarer) aus der indischen Gesellschaft.
Die Wurzeln des Kastenwesens lassen sich bis ins zweite vorchristliche Jahrtausend zurückverfolgen. Etwa 2000 bis 1500 v. Chr. tauchten die ersten Aryer (Arier, die Edlen) auf und wanderten in mehreren Invasionswellen über den Hindukusch ein. Dort unterwarfen und verdrängten sie einheimische Drawiden sowie Dasas (Indonegride). Die Aryer (so nannte sie sich selbst) waren halbnomadisierende, Rinder züchtende Stämme und kamen ursprünglich aus Zentralasien. Ihr frühes Eindringen kann man als das folgenschwerste Ereignis der indischen Geschichte betrachten, denn es hat die weitere Entwicklung Indiens am nachhaltigsten bestimmt und kulturell geprägt. Die Gesellschaft dieser Siegerstämme war schon vor der Invasion in „Kategorien“ unterteilt: in Brahmanen (Priester), Kshatra (Kriegsadel) sowie Vish (die gewöhnlichen Stammesangehörigen), die Viehzucht und Ackerbau betrieben. In Versammlungen wurde die Macht des Sabha (König) kontrolliert. Zunächst nahmen die adligen Krieger den höchsten Rang ein. Doch bald kam es zum Streit zwischen Adel und Priestern, bei dem sich letztendlich die Brahmanen durchsetzten. Da die Aryer die Drawiden besiegten und sich aufgrund ihrer helleren Hautfarbe als nobler und privilegierter betrachteten, erfolgte die Einteilung nach varna (Farbe). Erst die Portugiesen führten, als sie im 16. Jahrhundert nach Indien kamen, den geläufigen Begriff castas (Clan, Familie) ein, als sie bemerkten, dass die indische Gesellschaft in zahlreiche Gruppen aufgesplittert war.
Mit fortschreitender Arbeitsteilung entwickelte sich das Kastenwesen. Anfangs bezeichneten die Kasten unterschiedliche Berufsgruppen, zwischen denen man wechseln konnte. Später wurde Kastenzugehörigkeit erblich. Die Kastenhöheren wollten die niederen Stände vom Landbesitz ausschließen, um sich ihrer Arbeitskraft bemächtigen zu können.
Erst allmählich bildete sich das klassische, gegenwärtig bekannte Kastensystem mit seinen vier Hauptkasten heraus: Zuoberst standen die Brahmanen (Priester und Gelehrte), gefolgt von den Kshatriyas (Krieger), den Vaishyas (Händler und Bauern) und zuunterst die Shudras (Arbeiter und Untertanen). Die Brahmanen begründeten diese Einteilung der Menschenklassen mit dem Mythos von der Opferung des Urriesen Purusa, der in der Rigveda der ältesten Sammlung der Veden, begründet liegt (x, 90,12): „Zum Brahmanen ist sein Mund geworden, die Arme zum Krieger sind gemacht, der Händler aus Schenkeln, aus den Füßen der Knecht damals ward hervorgebracht…“
In diesem Text findet sich noch nicht die scharfe Abgrenzung zwischen den Kasten, die eine Heirat verschiedener Kastenangehörige und seine Kastenwechsel ausschließt.
Ab etwa 800 v. Chr. spielte der Opferkult eine immer stärkere Rolle in der Religionsausübung. Wo früher noch Opfer in Häusern und Opferstätten stattfanden, begannen die Brahmanen mit dem Tempelbau und komplexen, undurchschaubaren Riten, um ihre Vorrangstellung immer weiter aufzubauen. Man ging sogar so weit zu glauben, dass nur die Priester und ihre Opferhandlungen die Gunst der Götter beeinflussen konnten. In dieser Zeit entstanden die Gesetzestexte von Manu (manusmrti). Die Brahmanen bekämpften die Kastenmischung und hielten sie für den Ursprung allen Übels. Deshalb verfassten sie das Gesetzbuch des Manu, eine Offenbarung einer göttlichen Wesenheit, die der Stammvater der Menschheit sein soll. Dieses Gesetzbuch wurde zum Fundament für die gesellschaftliche und religiöse Welt der Hindus, das erste und wichtigste Werk der nachvedischen Überlieferung (smrti). Erstaunlicherweise setzt sich das Gesetzbuch Manus mit seinem Kastenrigorismus erst ab dem so genannten indischen Mittelalter 400 v. Chr. durch. Laut diesem Gesetzbuch wird Heirat ebenso vorherbestimmt wie Berufswahl und Sozialprestige des Individuums. Ganz im Zentrum steht dabei die Vorstellung der rituellen Reinheit. Unrein macht jetzt schon die körperliche Berührung mit niederen Kasten, noch mehr gemeinsames Essen und erst recht Sexualverkehr. Jegliche Unreinheit zwingt, sofern überhaupt möglich, zur angemessenen Reinigung. Um die Reinheit der einzelnen Kasten zu erhalten, haben die Brahmanen unzählige Vorschriften entwickelt: Gebote, Verbote, Reinigungsriten, Exkommunikation.
Der Ursprung der Klassengesellschaft lag in der Sorge der Aryer, sich mit dem dunklen Ureinwohner zu vermischen. Der Dunkelhäutige sollte isoliert und dienstbar gemacht werden. Es entstand die Gruppe der so genannten Kastenlosen, der Unberührbaren und Ausgestoßenen, dalits oder harijan (Kinder Gottes, wie Gandhi sie nannte). Nach Manu sollten ihr Besitz Hund Esel sein, ihre Kleider die Gewänder der Toten.
Bemerkenswert ist, dass selbst unter den Unberührbaren diese Struktur von Hierarchien fortgesetzt wurde, d.h. auch Harijans unterscheiden nochmals zwischen Unberührbaren und Unberührbarsten, abhängig vom Wohnort und vom Umgang mit bestimmten Materialien. Der Unberührbare darf noch die Straße fegen, wohingegen der Unberührbarste für Beseitigung von Abfall, Kadavern und Exkrementen zuständig ist.
Noch heute hegen Inder einen ausgeprägten Hautfarbenkomplex: Personen mit dunkler Hautfarbe haben weniger Chancen auf dem Heiratsmarkt oder sie werden mitleidig belächelt. Hautcremes, die den Teint europäisch hell bleichen, erfreuen sich bei indischen Frauen großer Beliebtheit. Das Leben in heutigen Hindugesellschaft, vor allem das auf dem Land, ist stärker reglementiert, als es etwa vor 2000 Jahren der Fall war.
Im Laufe der Generation bildeten sich die jati (Unterkasten), die so genannten Berufs-/ Interessengruppen, von denen es ca. 25.000 gibt. Die genaue Zahl ist kaum feststellbar, da stetig neue gebildet werden, andere hingegen aussterben. Diese Unterkasten sind von Region zu Region wiederum nochmals unterteilt. Selbst viele Inder sind nicht mehr in der Lage, das komplizierte Hierarchiesystem der Kasten zu durchblicken. Das Kastensystem lässt sich nicht durch einen Religionswechsel aufheben. Es gibt trotz der Konvertierung zum Christentum immer noch Brahmanen- Christen und Shudra- Christen, die untereinander nicht heiraten würden, selbst indische Muslime haben eine Art Kastensystem beibehalten.
Die genaue Kastenzugehörigkeit ist einem Inder normalerweise nicht anzusehen. Man erkennt die Zugehörigkeit zu Kaste und Religion meist am Nachnamen, Herr Biswas z.B. wäre ein bengalischer Shudra, Frau Chatterjee eine bengalische Brahmanin, Herr Gandhi ein Vaishja aus Gujarat und Herr Nehru ein Brahmane aus dem Kashmir.
Es gibt auch Familiennamen, die Kastengrenzen überschreiten und deren Träger nicht unbedingt eingeordnet werden können, wie ein Herr Patel, Desai oder Malik, oder eine Frau Metha oder Chaudhuri. Viele Nordinder, die in Thailand oder anderen asiatischen Länder leben, haben ein clevere Lösung gefunden, ihren niederen Kastenstatus zu verschleiern. Sie haben kurzerhand ihre Namen geändert, d.h. vorher hießen sie Yadav (Mitglieder der Shudra- Kaste) und jetzt heißen sie Dudey oder Pandey, Name eines Brahmanen. Auch in den Hindifilmen spielen die Namen der Helden oder Heldinnen für die indischen Zuschauer eine wichtige Rolle. Sie geben ihnen Informationen über sozialen Status und Religionszugehörigkeit. Beispielsweise weist der Vorname Amar auf einen Hindu hin, Akbar auf einen Moslem und Anthony auf einen Christen. Sharma beispielsweise weist auf de Status eines Brahmanen hin, Khan auf einen Moslem und Singh auf einen Sikh.
Offiziell wurde 1947 mit der Unabhängigkeit Indiens ein Kastenverbot ausgesprochen, d.h. die Gleichheit aller indischen Bürger wurde gesetzlich verankert. Jeder Bürger soll prinzipiell freien Zugang zu allen gesellschaftlichen Institution haben. Quotenregelungen sollen den Kastenlosen seit dem ebenfalls den Zugang zu staatlichen Arbeitsplätzen garantieren.
In den heutigen Städten Indiens, in die immer mehr Menschen strömen, verwischen sich zunehmend die Kastengrenzen wegen des engeren Kontakts in der Arbeitswelt. Besitz, Einkommen und Ausbildung entscheiden immer mehr über Einordnung und Bewertung des Einzelnen. Das Ansehen kann sich immer weniger auf rituelle Privilegien und den angeborenen Status berufen; es muss vielmehr in einem konkurrierenden Besitz- und Leistungssystem erworben werden. Durch Arbeitslosigkeit verändern sich Verhältnisse. Heute kann eine Brahmane in Armut leben oder als Koch, Wäscher oder Fremdenführer seinen Unterhalt verdienen, während Mitglieder unterer Kasten wie die Vaishyas (Kaufleute/ Händler) im Allgemeinen wirtschaftlich am besten situiert sind. Ein Angehöriger der Dhobis (Kaste der Wäscher) kann dagegen im Börsen- oder Immobiliengeschäft Erfolg haben.
THEATERKULTUR
Das indische Kino wurde nicht nur von der Mythologie, sondern auch von den Theatertraditionen des klassischen Sanskrit-Dramas, dem Volks- und Parsi Theater beeinflusst. Bevor der Film in Indien aufkam, gab es dort eine reiche Theaterkultur. In Mumbai, dem Zentrum des Theaterlebens, gab es etwa 20 Bühnen. Die Premieren waren Monate vorher ausverkauft, und ganze Familien reisten tagelang aus der Provinz nach Mumbai oder in andere Großstädte, um eine Vorstellung zu erleben. Alle Vorstellungen waren mit Gebet, Gesängen und Tanz versehen und Dauerten vier bis fünf Stunden. Das Publikum wollte etwas für sein Geld geboten bekommen. Indien hat eine Dramentradition, die bis in die Zeit um 100 v. Chr. zurückgeht.
Die Struktur sowohl des indischen Theaters als auch des indischen Films basiert auf dem „Heiligen Buch der Dramaturgie“, das zwischen 200 v. Chr. und 200 n. Chr. entstanden sein soll. Es ist die ästhetische lehre von den Gemütsstimmungen. Nach der Legende hat Brahma, der Schöpfergott, das Buch höchstpersönlich verfasst.
In diesem Buch bittet der Gott Indra (Vishnu) den Brahma um eine Unterhaltungsform, die gleichzeitig hörbar und sichtbar sein soll und allem Menschen gemeinsam sein könnte (die vier Veden sind den niedrigen Kasten verwehrt). Daraufhin schuf Brahma Natyaveda, das heilige Buch der Dramaturgie, indem er den vier Veden die vier Elemente: Sprache, Gesang, Tanz und Mienenspiel entnahm. Der Brahmane Bharat Muni, der „große Weise“, der den Menschen nun den neuen Veda lehrte, bestimmte, dass das Drama eine Darstellung der verschiedenen Emotionen sein sollte. Es solle unterschiedliche Situationen widerspiegeln und allen Menschen Mut, Unterhaltung, Glück und Rat geben. Im Einklang mit der hinduistischen Lebensauffassung wurde als letzte Regel das Happy End hinzugefügt, nach dem ein Drama nicht mit der Niederlage oder dem Tod des Helden enden soll und alle Konflikte harmonisch gelöst werden sollen. Diese indische Grundlehre steht im völligen Kontrast zur westlichen Theatertradition, die auf Aristoteles Poetik und dem griechischen Drama basiert. In der griechischen Tragödie wird menschliches Elend reflektiert, und der Held ist dem Untergang geweiht. Im Hindu- Drama hingegen triumphiert der Held über alle Widrigkeiten. Die grundlegenden Elemente im Buch der Heiligen Dramaturgie sind Bhava (Gefühle) und Rasa (Rasa bedeutet wörtlich: „Saft“ oder „das, was schmeckt und genossen wird“). Die wichtigsten neun Rasas sollen die Handlung und den Inhalt des Stücks beherrschen und einfühlsam und kunstvoll menschliche Gefühle reflektieren.
Bharat Muni unterschied dabei zwischen neun beständigen Rasas: Sringara (Eros/ Liebe), Rudra (Zorn), Veera (Heldentum), Bibhatsa (Ekel), Hasya (Komik), Karuna (Kummer/ Trauer), Adbhuta (Staunen), Bhaya (Furcht) und Shanta (Friedvolles). Die Rasas sind das Schlüsselkonzepte der klassischen indischen Ästhetik und bilden das Zentrum der Drama- Erzählstruktur.
Diese Rasa- Theorie ist gattungsübergreifend. Damit wird deutlich, dass man Hindifilme nicht wie Hollywoodfilme exakt nach Genres klassifizieren kann. Es werden immer verschiedene Rasas in die Handlungsstränge eingeflochten. Die indischen Zuschauer legen sehr großen Wert auf Darstellung von Gefühlen und zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie wollen im Theater wie auch im Film innerlich berührt werden- indisches Kino ist emotionales Kino.
Das Sanskrit-Drama
Das Sanskrit-Drama ist die älteste Form des klassischen Theaters in Indien. Es entstand etwa 100 v. Chr. und wurde in zwei Aufführungskategorien unterteilt. Eine Darbietung sollte zu Ehren der Götter in den Tempel stattfinden, die andere zum Vergnügen der Menschen. Bei den religiösen Vorführungen wurden Adaptionen der Epen und religiöse Ereignisse in Sanskrit dargeboten. Die zur Unterhaltung gedachten Veranstaltungen wurden in einer Sprachmischung von Sanskrit und regionaler Volkssprache aufgeführt. Der Beginn jedes Schauspiels wurde von einem Gebet eingeleitet. Themen der Dramen basierten auf mythologischen Ereignissen. Diese Geschichten wurden in Form von Prosapassagen und Gedichten gesungen oder melodisch rezitiert. Unterbrochen wurde der Ablauf durch Musik und Tanzeinlagen. Figuren der Geschichten waren Helden, Götter, Schurken und Dämonen sowie ein obligatorischer Vidushaka (Spaßmacher). Ein Akt eines Sanskrit- Stückes konnte bis zu 41 Nächte dauern. Jede Aufführung wurde von Trommeln und Zimbeln rhythmisch begleitet. Prächtige Kostüme und Schminkmasken waren das Erkennungsmerkmal der verschiedenen Charaktere. Die Blütezeit des Sanskrit-Dramas endete 1000 n. Chr. Es wurde mehr und mehr vom klassisch regionalen indischen Volkstheater abgelöst.
Die Volkstheater
Die klassischen Volkstheater übernahmen bald die Rolle des Sanskrit-Dramas. Im Zentrum standen Melodramen mit farbenprächtigen Gesang- und Tanzvorstellungen in jeweiligen Regionalsprachen. Die ehemaligen Sanskrit- Stücke wurden popularisiert und vereinfacht, so dass auch das gewöhnliche Volk sie ohne große Erklärungen verstehen konnte.
Das Volkstheater schöpfte nicht wie das Sanskrit-Drama ausschließlich aus dem Fundus der Epen und Heiligen Schriften, es bezog weitere Anregungen aus aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen und Ereignissen. Die Figuren des Volkstheaters waren gegenüber dem Vorgänger realistischer, sie verhielten sich natürlicher und weniger stilisiert.
Es war eine interaktive Performance. Die Zuschauer nahmen am Bühnengeschehen aktiv teil und gaben Kommentare ab, wenn sie von den Darstellern angesprochen wurden. Die Aufführungen fanden nicht im Tempel, sondern unter freiem Himmel statt.
Das Parsi- Theater
Anfang des 19. Jahrhunderts entstand in Mumbai das Parsi- Theater, das von den Parsen (Persern) gegründet und entwickelt wurde. Ihre Vorfahren flohen im 10. Jahrhundert aus ihrer Heimat (heutiger Iran) vor dem Ansturm des Islam an die Westküste Indiens, von wo aus sie sich später in weitere Regionen verbreiteten. Die Parsen sind Anhänger der einst mächtigenreligiösen Gemeinschaft der Zoroastrier, die früher im Iran und Irak herrschten. Sie bezeichnen sich selbst als Zaradushti nach ihrem Religionsstifter Zaradusht (altpersisch: Zarathustra), einem der frühesten Propheten in der Menschheitsgeschichte. Ihre Religion ist dualistischer Natur, das Gute und das Böse sind in einen ununterbrochenen Kampf miteinander verwickelt, wobei das Gute immer triumphiert. In dieser Hinsicht sind sich die hinduistische Religion und der Zoroastrimus nicht fremd.
In der Zeit der britischen Herrschaft waren viele Parsen im Handel und im kaufmännischen Bereich tätig. Sie investierten ihre Gewinne in die Kultur bzw. in die Theaterszene. Auf diese Weise konnten Theaterregisseure und Künstler ohne Geldsorgen schöpferisch tätig sein und viel Innovatives ausprobieren. Das Parsi- Theater absorbierte neben dem eigenen persischen Stil Strukturen und Inhalte des indischen Volkstheaters und des westlichem Theaters (Viktorianisches Theater) und setzte es in einer neuen Form zusammen.
Viktorianische Theatergruppen, die nach Indien kamen, zeigten Shakespeare und französische Melodramen, die mit Bühneneffekten wie z.B. feuernden Kanonen inszeniert waren. Die Parsi- Ensembles lernten von den Briten ebenfalls die Konstruktion der Dramatik. Romanzen wurden nach folgenden Schema aufgebaut: Ein Paar verliebt sich, Hindernisse und Missverständnisse tauchen auf, und am Ende erfolgt in letzter Minute das kategorische Happy End. Diese Konstruktion ist heute in fasst allen Bollywoodfilmen gang und gebe. Begleitet und untermalt wurden die Theaterstücke mit Musik und Liedern aus der Bhakti- und Sufi- Tradition. Das Parsi- Theater entwickelte sich zu einem Gemisch von Historienspiel, Farce und opernhaftem Drama. Viele Stücke enthielten persische Lyrik, heroische Themen und romantische Liebeslegenden. Auch hieran erkennt man wieder die Parallele zu den Genrefragmenten des späteren Hindifilms.
Das berühmteste Parsi- Theater war die Elphinstone Dramatic Company in Mumbai, die vor allem historische und soziale Dramen zeigte. Indische Klassiker waren „Kalidasa“ oder „König Shudrada“, aber auch europäische Stücke von Moliere und Sardou. Neben westlichen Adaptionen schrieben Autoren eigene Stücke in Urdu. Die Sprache war damals die „lingua franca“ in den moslemisch bevölkerten Städten Nordindiens und wurde von den meisten Menschen in dieser Region verstanden. Aus dieser Tradition heraus ist es heute noch üblich, die Songs der Bollywoodfilme in Urdu zu verfassen. Viele der ersten indischen Filmemacher waren ebenfalls Perser, wie z.B. die Homi Wadia Brüder, die Stunt- und Actionfilme mit der „Fearless Nadia“ drehten.
Wie in diesem Kapitel dargelegt wurde, sind die grundlegenden Elemente des indischen Kinos in der Religion und der Kultur begründet. Das Medium Kino eignete sich mehr als jede andere indische Kunstgattung, um Mythologie und Religion lebendig und plastisch darzustellen und Bekanntes neu zu illustrieren. Ausgehend von der Religion wurde das Kino selbst zu einer Art Religion. Indische Familien gingen in ihrer besten Kleidung und mit großer Erwartungshaltung in die Filmvorführungen. Es herrschte eine Art Pilgertum, denn sie schauten etwas an, das sie schon seit langem kannten und das ihnen vertraut war. Aus diesem Grund nahm das Kino eine andere Entwicklung und hatte einen anderen Stellenwert als bei uns im Westen.
Um indische Filme und die Entwicklung der indischen Filmindustrie besser nachvollziehen und verstehen zu können, ist es notwendig, zunächst einen Blick auf die religiösen und kulturgeschichtlichen Gegebenheiten zu werfen, da diese das Fundament der Kinotradition bilden. Die Eigenart bzw. tiefere Bedeutung der indischen Filmsprache basiert vor allem auf den Werten der hinduistischen Religion, dem Fundus ihrer Mythologie und dem Parsi- Theater.
BEDEUTUNG DER RELIGION
Die Religion durchdringt jeden Aspekt des indischen Alltags, unabhängig von der Religionszugehörigkeit. Jeder Hindifilm veranschaulicht dies, ständig sieht man Szenen, in denen Menschen in den Tempel gehen oder vor dem Hausaltar beten. Ebenso haben alle Feste und Rituale, die gezeigt werden, eine religiöse Bedeutung. Filme wie Fiza, Bombay oder Mission Kashmir thematisieren Religionskonflikte zwischen Hindus und Moslems. Also Grund genug, sich etwas näher mit der vorherrschenden, nämlich der hinduistischen Religion zu beschäftigen.
Etwa 83 Prozent der indischen Bevölkerung gehören der hinduistischen Glaubensrichtung an, gefolgt von der zweitstärksten Religionsgruppe, den Moslems mit circa 11 Prozent, die restlichen Prozente teilen sich Christen, Buddhisten, Jainis, und andere Glaubensrichtungen. Der Glaube, ungeachtet der jeweiligen Religionszugehörigkeit, spielt im Leben fasst alle Inder eine zentrale Rolle. Atheisten stoßen in Indien auf Unverständnis.
Der Hinduismus ist die älteste Religion Indiens, er beeinflusste vor allem thematisch das indische Kino. Im Gegensatz zum Christentum kann man nicht zum Hinduismus übertreten, wie etwa durch die Taufe, sondern man wird als Hindu geboren. Von Bedeutung dabei ist, dass bereits der Vater des Kindes ein Hindu ist.
Was versteht man eigentlich unter Hinduismus? Der Hinduismus ist für Außenstehende wahrscheinlich die verwirrendste aller Weltreligionen: Da einmal die unermessliche Anzahl verschiedener Götter und Göttinnen, dann die zahlreichen Riten und schließlich die nicht minder vielen verschiedenen Wege zu Erlösung, - von denen sich einige sogar widersprechen und gegenseitig anzuschließen scheinen. Der heutige Hinduismus ist das Ergebnis einer Vermischung verschiedenen Kulturen.
Auch den Hindus fällt die Definition ihrer Religion schwer.1903 versuchte ein konstitutioneller Beirat erstmals, den Hinduismus zu definieren. Dabei fand man heraus, dass es leichter ist, zu definieren, wer kein Hindu ist, als das Gegenteil. Die Ungenauigkeit beginnt schon beim Namen selbst, der lediglich eine geografische Bezeichnung ist. Das alte Indien grenzt e im Westen an Fluss Sind (auch Sindhu oder Indus geschrieben) und wurde von den westlichen Nachbarn der Inder Hind ausgesprochen. Das S am Wortanfang wurde getilgt. Die Bewohner der Region östlich des Sind wurden somit als Hindus bezeichnet, und entstand der Name, der danach für viel Verwirrung sorgte. Die Religionsbezeichnung Hinduismus von Europäern erfunden. Man versteht darunter den Verbund von Religionen und Lebensphilosophien unterschiedlicher Traditionen und Strömungen eingewanderter halbnomadischer indoarischer Völker und drawidischer Einheimischer.
GLAUBENSINHALT DES HINDUISMUS
Der Hinduismus kennt weder einen Religionsstifter noch einen einheitlichen, unveränderbaren Kanon an Texten. Relativität und Pluralität sind Grundzüge des Hinduismus. Die Inder selbst bezeichnen ihre Religion als Sanatana Dharma (ewige Ordnung). Kernpunkte dieser Ordnung sind Dharma, Karma, Maya sowie Widergeburt und Entsagung.
Der Hinduismus zeigt ein ganzheitliches Weltbild, in dem alles mit allem verbunden ist. Dharma ist die kosmische Ordnung, die alles zusammenhält, was erschaffen wurde, ohne jedoch dabei absolut perfekt und vollkommen zu sein. Der Mensch ist nicht wie im Christentum Krone der Schöpfung, sondern nur ein Teil, das heißt, alle Lebewesen besitzen eine Seele, sind unvergänglich und können sich in jeglichem Körper reinkarnieren.
Jede Handlung, jeder Gedanke führt zu der jeweiligen Konsequenz, auch Karma genannt (Karma ist das Gesetz von Ursache und Wirkung). Wie jeder Einzelne damit umgeht, bleibt ihm überlassen und sein persönliches Karma. Der Mensch ist das Produkt seiner Taten in einer Unzahl von vorherigen Leben, deshalb ertragen die meisten Hindus soziale Diskrepanzen mit Glauben und Vertrauen.
Maya bedeutet Illusion. Die Götter lassen den Durchschnittsmenschen nur das sehen, was er sehen soll. Die Weisen sind einzige Menschen, denen es nach vielen Jahren Askese gelingen kann, den Zauber der göttlichen Illusionen zu brechen. In Wirklichkeit sind wir und Dinge um uns herum nichts weiter als vielfältige vorhandene Visionen und Emanationen des göttlichen Geistes Brahma.
Das Ziel eines jeden Hindu ist es, sich aus dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburten (samsara) zu befreien und das Göttliche in sich zu erwecken. Man wird so lange wiedergeboren, bis dieses Ziel erreicht ist. Gefährdet wird dieser Weg durch Kama (Begierde/ egoistisches Verlangen), Lobha (Geiz), Krodha (Zorn) und Bhaya (Angst). Im Hinduismus geht es nicht in erster Linie um Dogmen und Glaubenssätze, sondern um richtiges handeln und um bestimmte Pflichten, die man gegenüber den Göttern, der Gesellschaft sowie der Familie zu erfüllen hat.
Auf dem Weg zum Endziel sollte der Gläubige etappenweise vorgehen, da man nur schwer in wenigen Leben das Moksha(Befreiung von irdischer Existenz) erreichen kann. Etappenziele wären z .B: Artha(Wohlstand, Ruhm) und Drahma(Rechtschaffenheit).
HEILIGE SCHRIFTEN DER HINDUS
Heilige hinduistische Texte werden in zwei Kategorien unterteilt: In jene, von denen man glaubt, sie seien Worte der Götter (shruti), und jene, die von Brahmanen(Priestern) geschrieben wurden (smriti). Die Veden, die von den siegreichen eingewanderten Ariern mitgebracht wurden, werden als Shruti- Wissen angesehn und gelten als maßgebliche Grundlage für den Hinduismus. Die Veden sind eine Sammlung von Hymnen, die in vorklassischen Sanskrit während des zweiten Jahrtausends v. Chr. Verfasst wurden, nachdem sie Jahrtausende zuvor mündlich weitergegeben worden waren.
Die Hymnen sind in vier Bücher unterteilt, von denen das älteste Veda, das Rigveda (erste Veda), vor mehr als 5000 Jahren zusammengestellt worden ist. Es besteht aus 1028 Versen und enthält Gebete und Mantras sowie Erklärungen über den Ursprung des Universums. Die Smriti- Texte, die von den Brahmanen verfasst wurden, umfassen eine große Literatursammlungen aus vielen Jahrhunderten und beinhalten Darlegungen über die richtige Ausführung von traditionellen und religiösen Zeremonien. Zu bekannten Werken, die in diesen Smriti- Schriften enthalten sind, gehören die mythologischen Epen Mahabharata und Ramayana.
DIE UNERSCHÖPFLICHE FUNDGRUBE DES INDISHEN KINOS
Das Indische Kino ist eine Montage untrennbarer mythologischer Einflüsse. Viele Geschichten und Ereignisse sowie die episodenhafte Struktur wurden aus indischen Mythologie der Smriti- Schriften übernommen. Figuren und Charaktere der Epen dienen dem indischen Kino bis heute als Rollenmodelle.
Mahabharata und Ramayana sind gemeinsames Erbe des Subkontinents und haben tief die Denkweise und die Vorstellung der Inder beeinflusst. Sie sind die Wächter des Glaubens und der sozialen Werte und bilden die Brüücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. In Indien gibt es ein Sprichwort, das besagt: „Jaha Nai Bharate (Indien), Taha Nai Bharate (Mahabharata)“- alles, was nicht in Indien zu finden ist, das wird auch nicht im Mahabharata zu finden sein.
MAHABHARATA ( Große Geschichte der Bharatas)
Das Mahabharata ist mit 100.000 zweizeiligen Versen das umfangreichste Epos der Hindus und auch der Weltliteratur. Es ist achtmal so lang wie die griechischen Epen Ilias und Odyssee zusammen und entstand vor etwa 4000 Jahren. Es ist eine Sammlung in der Sprache des Sanskrit und besteht aus verschiedenen Mythen, Legenden und Bräuchen aus vor arischer Zeit. Autor war der heilige und weise Dichter Krishna Dvaipayana Vyasa, der der Legende nach den Inhalt von Gott Ganesha in einer Vision übermittelt bekam. Später soll er die Texte an seinen Sohn und Schüler Vaishyampayana weitergegeben haben. Anfangs war das Mahabharata eine kurze Ballade in Prosaform. Im Verlaufe der Jahrhunderte wurde es ständig erweitert. Die letzten Verse wurden um das Jahr 500 n. Chr. eingeführt. Es existiert jedoch keine Standartversion. Neben den bekannten weit verbreiteten nordindischen und südindischen Versionen gibt es noch etliche weitere lokale Varianten. Die Anzahl der Versionen wird auf 1300 geschätzt. Selbst innerhalb einzelner Versionen trifft man oft auf widersprüchliche Doktrinen, denen verschiedene Quellen aus unterschiedlichen Epochen zugrunde liegen.
Der Name Mahabharata bezieht sich auf die Bharathas- die Nachkommen des Königs Bharatha. Mahabharata bedeutet auch „Großindien“. Bharat (avarsha) war der alte Name Indiens und wird heute offiziell für den Staat Indien benutzt.
Das Epos besteht aus achtzehn Büchern (paria) und einen Anhang (khila).
Die Rahmenhandlung bildet die große Schlacht zweier verfeindeter königlicher Großfamilie, den Kauravas und den Pandavas im Königreich Kuru (Kuruksaetra, heutiges Delhi): König Bharata hatte zwei Söhne, Dhritarashtra und Pandu. Wie so oft in der Geschichte der Menschheit war auch hier der Auslöser für den Kampf die Aufteilung des Königreichs. Der ältere Königsohn Dhritarashtra war blind und durfte der Sitte wegen nicht regieren, obwohl er der rechtmäßige König gewesen wäre. Der Herrscher beschloss, den jüngeren Sohn Pandu zunächst zum Regenten zu erklären. Dieser wollte jedoch nicht König werden, sondern entschied sich für ein Leben in der Einsiedelei. Daraufhin wurde doch Dhritarashtra als König eingesetzt. Er bekam 100 Söhne, die allesamt den Bösen anheim fielen. Nach der Zeit des Eremitendaseins heiratete Pandu und bekam fünf Söhne, die alle edel und gut wurden. Nun sollten Pandavas, seine Nachkommen, das land regieren, bzw. der der älteste Sohn der Pandavas, Yudhishthira, doch die Söhne des blinden Königs, die Kauravas, verschwörten sich gegen sie. Aus Bedrängnis verließen die Pandavas zunächst das Reich und wurden Söldner an anderen königlichen Höfen. Nach einiger Zeit kamen sie jedoch zurück und fochten mit den Kauravas eine gewaltige Schlacht aus, die nach achtzehn Tagen zu ihren Gunsten entschieden wurde. Die Pandavas stehen somit für Dharma, die religiöse Rechtschaffenheit, die Kauravas Familie Adharma, das Böse und Unrechte.
Ein Hauptkapitel des Mahabharata ist die berühmte Bhagavad Gita(Lied Gottes). Hier wird von Krishna erzählt, der Arjuna, dem Befehlshaber der Pandava Armee, als göttlicher Ratgeber erscheint. Am Vorabend des Gefechts wird Arjuna von Zweifeln befallen, da er nicht gegen seine Verwandten kämpfen möchte. In dieser Situation belehrt ihn Krishna über die Unsterblichkeit der Seele und die Aufgabe, sein dharma, seine heilige Pflicht, zu erfüllen.
Die Lehrrede Krishnas berührt fast alle Fragen des menschlichen Lebens. Dem Menschen werden drei gleichberechtigte Wege aufgezeigt, auf denen er sich verwirklichen soll- intellektuellen (jnana- Weg des Wissens), im emotionalen (bhakti- Weg der Liebe) und im praktischen (karma- Weg der guten Taten).
Die Haupthandlung des Mahabharata enthält zahlreiche Geschichten von Göttern, Helden und heiligen sowie dem ewigen Kampf zwischen guten und bösen Mächten. Das Epos ist nicht nur voll von schrecklichen Schlachten, sondern auch reich an menschlicher Dramatik, tiefen Pathos, tragischen Begegnungen und dem Bewusstsein von einem unentrinnbaren Schicksal. In den klassischen Konflikten sind zahlreiche Nebenhandlungen um Liebe, Hass und Intrigen eingeflochten, so dass dieses Epos als Vorläufer für den Plot eines typischen Hindifilms gelten kann.
RAMAYANA ( Die Geschehnisse um Rama)
Das Ramayana ist neben dem Mahabharata das beliebteste und zweitgrößte Epos. Nicht nur Inder, sondern auch andere Asiaten wie Thais, Indonesier und Malaysier kennen die darin enthaltenen Abenteuer auswendig.
Angeblich ist die legendäre Weise Valmiki, eine Zeitzeuge, der die Helden persönlich gekannt haben soll, der Verfasser des Werkes. Er erwähnt sich selbst im Epos als teilnehmende Beobachter. Eigentlich war er vor seinem Autorendasein ein Räuber, dem dann eines Tages das Glück zuteil wurde, von Hindu- Heiligen Narada auf den Pfad der Tugend zurückgeführt zu werden. Der heilige hatte in Valmiki das Talent zum Poeten zutage gefördert.
Wie auch schon beim Mahabharata existieren von Ramayana unterschiedliche Versionen. Das Epos ist in sieben Teile (kanda) unterteilt, besteht aus 24.000 vierzeiligen Versen und soll etwa um 5000 v. Chr. in Nordindien entstanden sein. Thema ist wie im Bruderepos der Konflikt zwischen den Göttern und Dämonen: Der kinderlose König von Ayodhaya fleht die Götter an, ihm doch einen Sohn zu schenken. Daraufhin bringt seine Frau einen Jungen zur Welt, den sie Rama nennen. Bald stirbt die Mutter, und der König nimmt sich eine andere Gattin. Als Rama alt genug ist, heiratet er die Königstochter Sita von Videha und wird von seinem Vater zum Nachfolger erwähnt. Doch seine neidische, böse Stiefmutter will, dass sein Stiefbruder statt ihm den Thron einnimmt. Infolge von Intrigen wird Rama vierzehn Jahre lang vom Hof verbannt. Er zieht mit seiner Frau Sita und seinem jüngeren Bruder Lakshmana in die Wälder. Eines Tages wird Sita vom Dämonenkönig Ravana nach (Sri) Lanka entführt. In dieser Geschichte erfährt man, dass Rama eigentlich die menschliche Verkörperung des Gottes Vishnu ist, der wieder auf die Welt kam, um den Dämonenkönig zu stürzen. Die bösen Mächte hatten überhand genommen, und Vishnu wollte das Gleichgewicht herstellen. Nach vielen spannenden Abenteuern und mit Hilfe des fliegenden Affenkönigs Sygriva, dem treuen Affengott Hanuman und seinem Affengefolge werden Ravana und das Dämonenheer besiegt und Sita befreit. Doch nach diesem Ereignis zweifelt Rama ständig an Sitas Körperlichen Unschuld und an ihre Treue. Obwohl sie sich als Gegenbeweis einer Feuerprobe auf dem Scheiterhaufen unterzieht und der Feuergott Agni sich weigert, sie zu verbrennen, da sie unschuldig ist, verbannt Rama sie aus seinem Reich. Sie findet Zuflucht bei dem Schreiber Valmiki. Fünfzehn Jahre später begegnet Rama während eines Pferdeopfers einem Zwillingspaar und erkennt in ihren Gesichtern sein Ebenbild. Er bereut die Behandlung seiner Frau und ruft sie nach Ayodhya zurück. Sita beteuert nochmals Ihrer Unschuld und bittet dann Mutter Erde, sie wieder in ihren Schoß aufzunehmen. Der Legende nach ist Sita die Tochter der Erde, die einst beim Pflügen einer Erdscholle erschien. Die Erde öffnet sich und verschluckt Sita. Rama kann den Verlust nicht verkraften und folgt ihr in die Tiefen des Flusses Sarayu, wo sie heute vereint sind.
Rama rief im Verlaufe dieser Geschichte zur Gestalt des Purushottama (vollkommener Mensch) heran. Er gilt als Idealbild des gehorsamen Sohnes und des treuen Ehemannes. Seine Frau Sita steht für das Ideal der getreuen Ehefrau. Sie wird als Göttin der Landwirtschaft verehrt. Ram Leela (Geschichten von Ram) ist ein sehr beliebter Filmstoff, der immer wieder neu variiert wird.
DIE HINDUISTISCHE HAUPTGÖTTER
Die hinduistischen Gottheiten sind fast so zahlreich wie die Sterne im Firmament. Indologen schätzen eine Gesamtzahl von 330 Millionen Gottheiten. Sie verkörpern bestimmte Eigenschaften des kosmischen Bewusstseins. In keiner anderen Religion gibt es so viele Feste und Zeremonien, die zu Ehren der Götter gefeiert werden, wie im Hinduismus. Der Hindu sucht im Gegensatz zum Christen oder Moslems die Gottesbegegnungen meist nicht in der Stille, sondern in orgiastischen Festen mit viel Tanz und Lärm. Die folgenden sieben wichtigsten Gottheiten begegnen einen immer wieder:
Brahman ist die Urkraft und ewige Quelle aller Existenz. Sie manifestieren sich durch das Dharma (ewige Ordnung) und bewirken den ewigen Kreislauf von Entstehen und Vergehen. (Nicht zu verwechseln mit Brahma, dem Schöpfergott, sein Name wurde von Brahman abgeleitet.) Brahman hat im Gegensatz zu allen anderen Göttern keine Attribute. Eine aktive Rolle spielt er nur bei der Schöpfung des Universums. Den Rest der zeit verbringt er mit Meditation. Er besitzt vier gekrönte Köpfe, die in die vier Himmelsrichtungen zeigen. Meist reitet er auf einem Schwan oder meditiert auf einem Lotus. In seinen Vier Händen hält er die vier Veden. Seine Gemahlin ist Saraswati, die Göttin des Lernens.
Vishnu (Bewahrer des Universums) schützt und stützt das Gute in der Welt. Seine Gemahlin ist Lakshimi, die Göttin der Schönheit und des Schicksals. Gewöhnlich wird Vishnu mit mit vier Armen abgebildet, in denen er jeweils einen Lotus, eine Muschelschale, einen Diskus und einen Amtsstab hält. Gemäß der Mythologie hat er sich neunmal auf Erden in verschiedene Formen inkarniert, z.B. als Matsya (Fisch), Krishna, Rama (siehe auch RAMAYANA Epos) und Buddha. Alle Götter sind aus ihm erschaffen, auch Shiva, sein Gegenstück. Die hinduistische Dreifaltigkeit Trimurti lautet: Brahma- Vishnu- Shiva. Alle anderen Götter sind Aspekte von Vishnu.
Shiva ist der Zerstörer und Erneuerer aller dinge und der Gott, der über die Zeit herrscht. Ohne ihn hätte die Schöpfung nicht geschehen können. Mit 1008 Namen nimmt Shiva viele Formen an, z.B. als Vorkämpfer für die Tiere (Pashupati) und Herr des Tanzes (Nataraja). Dargestellt wird er meist als Asket mit verfilztem Haar und einem nackten, mit Asche verschmierten Körper. Auf seiner Stirn leuchtet ein drittes Auge als Symbol für Weisheit, in seiner Hand hält er einen Dreizack (Trishula, Symbol für die drei Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) als Waffe. Sein Gemahlin ist Parvati, die viele Formen annehmen kann. Wegen seiner Großzügigkeit und Ehrfurcht gegenüber Parvati sehen indische Frauen Shiva als ideales Vorbild für einen Ehemann an.
Krishna und Radha
Krishna kämpft für das Wohl auf Erden. Er ist der meist verehrte Gott in Indien. Sein Name bedeutet „schwarz“ und er wird als blauhäutiger Kuhhirte mit Flöte dargestellt, der eine Vorliebe für Milchmädchen hat. Der sinnesfreudige Gott soll insgesamt 16.108 Ehefrauen haben, mit denen er 180.008 Söhne gezeugt hat. Deshalb wird er auch Kanhaiya (Liebhaber von Jungfrauen) genannt. Er gilt als loyal und großzügig und ist bei den indischen Frauen äußerst beliebt. Seine Romanze mit den gosip (Milchmädchen) und seine leidenschaftliche Liebe zu Radha (bekanntestes Milchmädchen) haben Künstler zu zahllosen Bildern, Liedern und Filmen inspiriert.
Hanuman, der Affengott, ist auch ein Held des Ramayana Epos und ein loyaler Verbündeter von König Rama, mit dem er gegen Dämonen kämpft.
Ganesha ist der Sohn von Shiva und Parvati und trägt einen Elefantenkopf. Er ist der Beseitiger von Hindernissen, Schutzheiliger der Schreiber und Gott der Weisheit.
Jeder männlichen Gottheit wird eine Göttin (Shakti, weibliche Energie) zugeordnet, die ihm dazu verhilft, seine Energie zu entfalten. Shivas Gemahlin Parvati ist eine andere Verkörperung der Göttinnen Devi und Durga. Sie symbolisiert in diesen Göttergestalten die gütige göttliche Seite. Parvati tritt aber auch als Göttin Kali in Erscheinung und verkörpert in ihr den blutrünstigen zerstörerischen Aspekt.
Viele der hier genannten Gottheiten kann man immer wieder in den Kulissen der Bollywoodfilme sehen. Im Hinduismus entstehen kurioserweise immer wieder neue Gottheiten, wofür zeitweise auch indische Filme mitverantwortlich sind. In dem Telugufilm „Santhoshi Mata Vratha Mahatyam“(1983) wurde beispielsweise eine Götterfigur namens Santhoshi Mata geschaffen. Die Figur erläutert in diesem Film, sie würde vom Götterpaar Shiva und Parvati abstammen. Sie nahm für sich eine Genealogie in Anspruch, die es eigentlich nicht gab, und wurde tatsächlich von der indischen Bevölkerung in den Pantheon als eine veritable Göttin integriert, obwohl sie in den heiligen Schriften keine Grundlage besitzt. Menschen wenden sich seit diesem Film an sie, um Erfolg und Wohlstand in der modernen städtischen Welt zu erhalten. Zu ihren Ehren fasten ihre Anhänger jeden Freitag.
Die meisten Hindus sind Laien bzw. Analphabeten und der gelehrten Schriften nicht kundig- daher ist es für sie einfacher, göttliche Symbole zu verehren. Es ist üblich, dass jeder Hindu sich eine Lieblingsgottheit auswählt. Beeinflusst wird die Auswahl der Lieblingsgötter von lokalen Traditionen, d.h. Götter, denen im Norden gehuldigt wird, sind oft im Süden nicht bekannt bzw. mit anderem Namen versehen. Ebenfalls ist es üblich, neben dem Lieblingsgott eine Gottheit anzurufen, die nur für bestimmte Situationen zuständig ist, z.B. betet ein eigentlicher Anhänger Krishnas bei Geldmangel zur Göttin Lakshimi.
Jeder Hindu- Tempel ist einer Gottheit geweiht, es ist ein Ort der besonderen Kräfte, deswegen werden dort Heilungen und Geisteraustreibungen vorgenommen. Der Tempel zählt für Hindus zum Mittelpunkt des Lebens. Ein weiteres Merkmal für die Wichtigkeit der Religion ist der Brauch, Orte nach Göttern zu benennen, wie Ganeshpur (Stadt des Ganesha) oder auch Kalkota nach der Göttin Kali. Ebenso werden viele Kinder nach Göttern benannt- wie Sita, Radha, Parvati, Ram oder Krishna. Durch das Rufen und Hören des göttlichen Namens sollen göttliche Eigenschaften in den Hörer und Rufer übergehen und ihm ermahnen, sich dem Göttlichen zuzuwenden.
Hindugötter sind im modernen Indien jetzt sogar Stars von Seifenopern. Auf dem staatlichen Fernsehnkanals Door Dashan läuft mit großer Beliebtheit eine Serie mit Geschichten aus Mahabharata. Selbst die Werbung macht vor ihnen nicht Halt. Von riesigen Plakaten strahlt uns ihr Lächeln entgegen mit dem Slogan: „Shiva verkauft am Besten“ (Mumbai Public Relation).
Dass die Religion jeden Aspekt indischen Lebens durchdringt, sieht man gleichsam an den zahlreichen Pujas (religiöse Zeremonien), die tagtäglich abgehalten werden, um Unglück fernzuhalten. Jede Familie hat in ihrem Haus einen Altar mit Götterfiguren, vor den sie allmorgendlich ihre Opfergaben stellt. Familienmitglieder werden vor dem Verlassen des Hauses gesegnet, und selbst die Filmindustrie lässt vor jedem Drehbeginn eines neuen Films das „Mahurat“, eine religiöse Segenszeremonie, durchführen. Auf diese Weise soll das Filmteam geschützt und der Film ein Erfolg werden. Während der Shradh- Periode (vergleichbar mit Allerheiligen, man gedenkt der Toten und Ahnen) lassen Produzenten ihre Filme nicht anlaufen. Bei den Dreharbeiten tragen viele Schauspieler Glücksbringer wie Schlangen oder Ringe mit sich, und einige Maskenbildner machen ein Tikka (roten Punkt) auf den Spiegel, ehe sie mit dem Make up beginnen. Und wenn man fragt, weswegen so viele Filme den Buchstaben K im Filmtitel haben, dann bekommt man zur Antwort, dass dieser Buchstabe besonders energiereich und vital sei.
DAS KASTENSYSTEM
Ein weiterer Teil des Hinduismus ist das Kastenwesen. Die Bedeutung des Kastensystems in Bezug auf indische Filme ist wichtig, weil viele Werke der indischen Filmgeschichte sich bis heute mit diesem Thema auseinandersetzen. Das zeigt vor allem Stoff „Devdas“, der zwischen 1928 und 2002 immer wieder verfilmt wurde und der Liebesgeschichte eines Paares handelt, das aufgrund des Kastengebots nicht zusammen leben darf. Auch der für den Oscar nominierte Film „Lagaan“ (2001) zeigt die Ausgrenzung Kastenloser (Unberührbarer) aus der indischen Gesellschaft.
Die Wurzeln des Kastenwesens lassen sich bis ins zweite vorchristliche Jahrtausend zurückverfolgen. Etwa 2000 bis 1500 v. Chr. tauchten die ersten Aryer (Arier, die Edlen) auf und wanderten in mehreren Invasionswellen über den Hindukusch ein. Dort unterwarfen und verdrängten sie einheimische Drawiden sowie Dasas (Indonegride). Die Aryer (so nannte sie sich selbst) waren halbnomadisierende, Rinder züchtende Stämme und kamen ursprünglich aus Zentralasien. Ihr frühes Eindringen kann man als das folgenschwerste Ereignis der indischen Geschichte betrachten, denn es hat die weitere Entwicklung Indiens am nachhaltigsten bestimmt und kulturell geprägt. Die Gesellschaft dieser Siegerstämme war schon vor der Invasion in „Kategorien“ unterteilt: in Brahmanen (Priester), Kshatra (Kriegsadel) sowie Vish (die gewöhnlichen Stammesangehörigen), die Viehzucht und Ackerbau betrieben. In Versammlungen wurde die Macht des Sabha (König) kontrolliert. Zunächst nahmen die adligen Krieger den höchsten Rang ein. Doch bald kam es zum Streit zwischen Adel und Priestern, bei dem sich letztendlich die Brahmanen durchsetzten. Da die Aryer die Drawiden besiegten und sich aufgrund ihrer helleren Hautfarbe als nobler und privilegierter betrachteten, erfolgte die Einteilung nach varna (Farbe). Erst die Portugiesen führten, als sie im 16. Jahrhundert nach Indien kamen, den geläufigen Begriff castas (Clan, Familie) ein, als sie bemerkten, dass die indische Gesellschaft in zahlreiche Gruppen aufgesplittert war.
Mit fortschreitender Arbeitsteilung entwickelte sich das Kastenwesen. Anfangs bezeichneten die Kasten unterschiedliche Berufsgruppen, zwischen denen man wechseln konnte. Später wurde Kastenzugehörigkeit erblich. Die Kastenhöheren wollten die niederen Stände vom Landbesitz ausschließen, um sich ihrer Arbeitskraft bemächtigen zu können.
Erst allmählich bildete sich das klassische, gegenwärtig bekannte Kastensystem mit seinen vier Hauptkasten heraus: Zuoberst standen die Brahmanen (Priester und Gelehrte), gefolgt von den Kshatriyas (Krieger), den Vaishyas (Händler und Bauern) und zuunterst die Shudras (Arbeiter und Untertanen). Die Brahmanen begründeten diese Einteilung der Menschenklassen mit dem Mythos von der Opferung des Urriesen Purusa, der in der Rigveda der ältesten Sammlung der Veden, begründet liegt (x, 90,12): „Zum Brahmanen ist sein Mund geworden, die Arme zum Krieger sind gemacht, der Händler aus Schenkeln, aus den Füßen der Knecht damals ward hervorgebracht…“
In diesem Text findet sich noch nicht die scharfe Abgrenzung zwischen den Kasten, die eine Heirat verschiedener Kastenangehörige und seine Kastenwechsel ausschließt.
Ab etwa 800 v. Chr. spielte der Opferkult eine immer stärkere Rolle in der Religionsausübung. Wo früher noch Opfer in Häusern und Opferstätten stattfanden, begannen die Brahmanen mit dem Tempelbau und komplexen, undurchschaubaren Riten, um ihre Vorrangstellung immer weiter aufzubauen. Man ging sogar so weit zu glauben, dass nur die Priester und ihre Opferhandlungen die Gunst der Götter beeinflussen konnten. In dieser Zeit entstanden die Gesetzestexte von Manu (manusmrti). Die Brahmanen bekämpften die Kastenmischung und hielten sie für den Ursprung allen Übels. Deshalb verfassten sie das Gesetzbuch des Manu, eine Offenbarung einer göttlichen Wesenheit, die der Stammvater der Menschheit sein soll. Dieses Gesetzbuch wurde zum Fundament für die gesellschaftliche und religiöse Welt der Hindus, das erste und wichtigste Werk der nachvedischen Überlieferung (smrti). Erstaunlicherweise setzt sich das Gesetzbuch Manus mit seinem Kastenrigorismus erst ab dem so genannten indischen Mittelalter 400 v. Chr. durch. Laut diesem Gesetzbuch wird Heirat ebenso vorherbestimmt wie Berufswahl und Sozialprestige des Individuums. Ganz im Zentrum steht dabei die Vorstellung der rituellen Reinheit. Unrein macht jetzt schon die körperliche Berührung mit niederen Kasten, noch mehr gemeinsames Essen und erst recht Sexualverkehr. Jegliche Unreinheit zwingt, sofern überhaupt möglich, zur angemessenen Reinigung. Um die Reinheit der einzelnen Kasten zu erhalten, haben die Brahmanen unzählige Vorschriften entwickelt: Gebote, Verbote, Reinigungsriten, Exkommunikation.
Der Ursprung der Klassengesellschaft lag in der Sorge der Aryer, sich mit dem dunklen Ureinwohner zu vermischen. Der Dunkelhäutige sollte isoliert und dienstbar gemacht werden. Es entstand die Gruppe der so genannten Kastenlosen, der Unberührbaren und Ausgestoßenen, dalits oder harijan (Kinder Gottes, wie Gandhi sie nannte). Nach Manu sollten ihr Besitz Hund Esel sein, ihre Kleider die Gewänder der Toten.
Bemerkenswert ist, dass selbst unter den Unberührbaren diese Struktur von Hierarchien fortgesetzt wurde, d.h. auch Harijans unterscheiden nochmals zwischen Unberührbaren und Unberührbarsten, abhängig vom Wohnort und vom Umgang mit bestimmten Materialien. Der Unberührbare darf noch die Straße fegen, wohingegen der Unberührbarste für Beseitigung von Abfall, Kadavern und Exkrementen zuständig ist.
Noch heute hegen Inder einen ausgeprägten Hautfarbenkomplex: Personen mit dunkler Hautfarbe haben weniger Chancen auf dem Heiratsmarkt oder sie werden mitleidig belächelt. Hautcremes, die den Teint europäisch hell bleichen, erfreuen sich bei indischen Frauen großer Beliebtheit. Das Leben in heutigen Hindugesellschaft, vor allem das auf dem Land, ist stärker reglementiert, als es etwa vor 2000 Jahren der Fall war.
Im Laufe der Generation bildeten sich die jati (Unterkasten), die so genannten Berufs-/ Interessengruppen, von denen es ca. 25.000 gibt. Die genaue Zahl ist kaum feststellbar, da stetig neue gebildet werden, andere hingegen aussterben. Diese Unterkasten sind von Region zu Region wiederum nochmals unterteilt. Selbst viele Inder sind nicht mehr in der Lage, das komplizierte Hierarchiesystem der Kasten zu durchblicken. Das Kastensystem lässt sich nicht durch einen Religionswechsel aufheben. Es gibt trotz der Konvertierung zum Christentum immer noch Brahmanen- Christen und Shudra- Christen, die untereinander nicht heiraten würden, selbst indische Muslime haben eine Art Kastensystem beibehalten.
Die genaue Kastenzugehörigkeit ist einem Inder normalerweise nicht anzusehen. Man erkennt die Zugehörigkeit zu Kaste und Religion meist am Nachnamen, Herr Biswas z.B. wäre ein bengalischer Shudra, Frau Chatterjee eine bengalische Brahmanin, Herr Gandhi ein Vaishja aus Gujarat und Herr Nehru ein Brahmane aus dem Kashmir.
Es gibt auch Familiennamen, die Kastengrenzen überschreiten und deren Träger nicht unbedingt eingeordnet werden können, wie ein Herr Patel, Desai oder Malik, oder eine Frau Metha oder Chaudhuri. Viele Nordinder, die in Thailand oder anderen asiatischen Länder leben, haben ein clevere Lösung gefunden, ihren niederen Kastenstatus zu verschleiern. Sie haben kurzerhand ihre Namen geändert, d.h. vorher hießen sie Yadav (Mitglieder der Shudra- Kaste) und jetzt heißen sie Dudey oder Pandey, Name eines Brahmanen. Auch in den Hindifilmen spielen die Namen der Helden oder Heldinnen für die indischen Zuschauer eine wichtige Rolle. Sie geben ihnen Informationen über sozialen Status und Religionszugehörigkeit. Beispielsweise weist der Vorname Amar auf einen Hindu hin, Akbar auf einen Moslem und Anthony auf einen Christen. Sharma beispielsweise weist auf de Status eines Brahmanen hin, Khan auf einen Moslem und Singh auf einen Sikh.
Offiziell wurde 1947 mit der Unabhängigkeit Indiens ein Kastenverbot ausgesprochen, d.h. die Gleichheit aller indischen Bürger wurde gesetzlich verankert. Jeder Bürger soll prinzipiell freien Zugang zu allen gesellschaftlichen Institution haben. Quotenregelungen sollen den Kastenlosen seit dem ebenfalls den Zugang zu staatlichen Arbeitsplätzen garantieren.
In den heutigen Städten Indiens, in die immer mehr Menschen strömen, verwischen sich zunehmend die Kastengrenzen wegen des engeren Kontakts in der Arbeitswelt. Besitz, Einkommen und Ausbildung entscheiden immer mehr über Einordnung und Bewertung des Einzelnen. Das Ansehen kann sich immer weniger auf rituelle Privilegien und den angeborenen Status berufen; es muss vielmehr in einem konkurrierenden Besitz- und Leistungssystem erworben werden. Durch Arbeitslosigkeit verändern sich Verhältnisse. Heute kann eine Brahmane in Armut leben oder als Koch, Wäscher oder Fremdenführer seinen Unterhalt verdienen, während Mitglieder unterer Kasten wie die Vaishyas (Kaufleute/ Händler) im Allgemeinen wirtschaftlich am besten situiert sind. Ein Angehöriger der Dhobis (Kaste der Wäscher) kann dagegen im Börsen- oder Immobiliengeschäft Erfolg haben.
THEATERKULTUR
Das indische Kino wurde nicht nur von der Mythologie, sondern auch von den Theatertraditionen des klassischen Sanskrit-Dramas, dem Volks- und Parsi Theater beeinflusst. Bevor der Film in Indien aufkam, gab es dort eine reiche Theaterkultur. In Mumbai, dem Zentrum des Theaterlebens, gab es etwa 20 Bühnen. Die Premieren waren Monate vorher ausverkauft, und ganze Familien reisten tagelang aus der Provinz nach Mumbai oder in andere Großstädte, um eine Vorstellung zu erleben. Alle Vorstellungen waren mit Gebet, Gesängen und Tanz versehen und Dauerten vier bis fünf Stunden. Das Publikum wollte etwas für sein Geld geboten bekommen. Indien hat eine Dramentradition, die bis in die Zeit um 100 v. Chr. zurückgeht.
Die Struktur sowohl des indischen Theaters als auch des indischen Films basiert auf dem „Heiligen Buch der Dramaturgie“, das zwischen 200 v. Chr. und 200 n. Chr. entstanden sein soll. Es ist die ästhetische lehre von den Gemütsstimmungen. Nach der Legende hat Brahma, der Schöpfergott, das Buch höchstpersönlich verfasst.
In diesem Buch bittet der Gott Indra (Vishnu) den Brahma um eine Unterhaltungsform, die gleichzeitig hörbar und sichtbar sein soll und allem Menschen gemeinsam sein könnte (die vier Veden sind den niedrigen Kasten verwehrt). Daraufhin schuf Brahma Natyaveda, das heilige Buch der Dramaturgie, indem er den vier Veden die vier Elemente: Sprache, Gesang, Tanz und Mienenspiel entnahm. Der Brahmane Bharat Muni, der „große Weise“, der den Menschen nun den neuen Veda lehrte, bestimmte, dass das Drama eine Darstellung der verschiedenen Emotionen sein sollte. Es solle unterschiedliche Situationen widerspiegeln und allen Menschen Mut, Unterhaltung, Glück und Rat geben. Im Einklang mit der hinduistischen Lebensauffassung wurde als letzte Regel das Happy End hinzugefügt, nach dem ein Drama nicht mit der Niederlage oder dem Tod des Helden enden soll und alle Konflikte harmonisch gelöst werden sollen. Diese indische Grundlehre steht im völligen Kontrast zur westlichen Theatertradition, die auf Aristoteles Poetik und dem griechischen Drama basiert. In der griechischen Tragödie wird menschliches Elend reflektiert, und der Held ist dem Untergang geweiht. Im Hindu- Drama hingegen triumphiert der Held über alle Widrigkeiten. Die grundlegenden Elemente im Buch der Heiligen Dramaturgie sind Bhava (Gefühle) und Rasa (Rasa bedeutet wörtlich: „Saft“ oder „das, was schmeckt und genossen wird“). Die wichtigsten neun Rasas sollen die Handlung und den Inhalt des Stücks beherrschen und einfühlsam und kunstvoll menschliche Gefühle reflektieren.
Bharat Muni unterschied dabei zwischen neun beständigen Rasas: Sringara (Eros/ Liebe), Rudra (Zorn), Veera (Heldentum), Bibhatsa (Ekel), Hasya (Komik), Karuna (Kummer/ Trauer), Adbhuta (Staunen), Bhaya (Furcht) und Shanta (Friedvolles). Die Rasas sind das Schlüsselkonzepte der klassischen indischen Ästhetik und bilden das Zentrum der Drama- Erzählstruktur.
Diese Rasa- Theorie ist gattungsübergreifend. Damit wird deutlich, dass man Hindifilme nicht wie Hollywoodfilme exakt nach Genres klassifizieren kann. Es werden immer verschiedene Rasas in die Handlungsstränge eingeflochten. Die indischen Zuschauer legen sehr großen Wert auf Darstellung von Gefühlen und zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie wollen im Theater wie auch im Film innerlich berührt werden- indisches Kino ist emotionales Kino.
Das Sanskrit-Drama
Das Sanskrit-Drama ist die älteste Form des klassischen Theaters in Indien. Es entstand etwa 100 v. Chr. und wurde in zwei Aufführungskategorien unterteilt. Eine Darbietung sollte zu Ehren der Götter in den Tempel stattfinden, die andere zum Vergnügen der Menschen. Bei den religiösen Vorführungen wurden Adaptionen der Epen und religiöse Ereignisse in Sanskrit dargeboten. Die zur Unterhaltung gedachten Veranstaltungen wurden in einer Sprachmischung von Sanskrit und regionaler Volkssprache aufgeführt. Der Beginn jedes Schauspiels wurde von einem Gebet eingeleitet. Themen der Dramen basierten auf mythologischen Ereignissen. Diese Geschichten wurden in Form von Prosapassagen und Gedichten gesungen oder melodisch rezitiert. Unterbrochen wurde der Ablauf durch Musik und Tanzeinlagen. Figuren der Geschichten waren Helden, Götter, Schurken und Dämonen sowie ein obligatorischer Vidushaka (Spaßmacher). Ein Akt eines Sanskrit- Stückes konnte bis zu 41 Nächte dauern. Jede Aufführung wurde von Trommeln und Zimbeln rhythmisch begleitet. Prächtige Kostüme und Schminkmasken waren das Erkennungsmerkmal der verschiedenen Charaktere. Die Blütezeit des Sanskrit-Dramas endete 1000 n. Chr. Es wurde mehr und mehr vom klassisch regionalen indischen Volkstheater abgelöst.
Die Volkstheater
Die klassischen Volkstheater übernahmen bald die Rolle des Sanskrit-Dramas. Im Zentrum standen Melodramen mit farbenprächtigen Gesang- und Tanzvorstellungen in jeweiligen Regionalsprachen. Die ehemaligen Sanskrit- Stücke wurden popularisiert und vereinfacht, so dass auch das gewöhnliche Volk sie ohne große Erklärungen verstehen konnte.
Das Volkstheater schöpfte nicht wie das Sanskrit-Drama ausschließlich aus dem Fundus der Epen und Heiligen Schriften, es bezog weitere Anregungen aus aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen und Ereignissen. Die Figuren des Volkstheaters waren gegenüber dem Vorgänger realistischer, sie verhielten sich natürlicher und weniger stilisiert.
Es war eine interaktive Performance. Die Zuschauer nahmen am Bühnengeschehen aktiv teil und gaben Kommentare ab, wenn sie von den Darstellern angesprochen wurden. Die Aufführungen fanden nicht im Tempel, sondern unter freiem Himmel statt.
Das Parsi- Theater
Anfang des 19. Jahrhunderts entstand in Mumbai das Parsi- Theater, das von den Parsen (Persern) gegründet und entwickelt wurde. Ihre Vorfahren flohen im 10. Jahrhundert aus ihrer Heimat (heutiger Iran) vor dem Ansturm des Islam an die Westküste Indiens, von wo aus sie sich später in weitere Regionen verbreiteten. Die Parsen sind Anhänger der einst mächtigenreligiösen Gemeinschaft der Zoroastrier, die früher im Iran und Irak herrschten. Sie bezeichnen sich selbst als Zaradushti nach ihrem Religionsstifter Zaradusht (altpersisch: Zarathustra), einem der frühesten Propheten in der Menschheitsgeschichte. Ihre Religion ist dualistischer Natur, das Gute und das Böse sind in einen ununterbrochenen Kampf miteinander verwickelt, wobei das Gute immer triumphiert. In dieser Hinsicht sind sich die hinduistische Religion und der Zoroastrimus nicht fremd.
In der Zeit der britischen Herrschaft waren viele Parsen im Handel und im kaufmännischen Bereich tätig. Sie investierten ihre Gewinne in die Kultur bzw. in die Theaterszene. Auf diese Weise konnten Theaterregisseure und Künstler ohne Geldsorgen schöpferisch tätig sein und viel Innovatives ausprobieren. Das Parsi- Theater absorbierte neben dem eigenen persischen Stil Strukturen und Inhalte des indischen Volkstheaters und des westlichem Theaters (Viktorianisches Theater) und setzte es in einer neuen Form zusammen.
Viktorianische Theatergruppen, die nach Indien kamen, zeigten Shakespeare und französische Melodramen, die mit Bühneneffekten wie z.B. feuernden Kanonen inszeniert waren. Die Parsi- Ensembles lernten von den Briten ebenfalls die Konstruktion der Dramatik. Romanzen wurden nach folgenden Schema aufgebaut: Ein Paar verliebt sich, Hindernisse und Missverständnisse tauchen auf, und am Ende erfolgt in letzter Minute das kategorische Happy End. Diese Konstruktion ist heute in fasst allen Bollywoodfilmen gang und gebe. Begleitet und untermalt wurden die Theaterstücke mit Musik und Liedern aus der Bhakti- und Sufi- Tradition. Das Parsi- Theater entwickelte sich zu einem Gemisch von Historienspiel, Farce und opernhaftem Drama. Viele Stücke enthielten persische Lyrik, heroische Themen und romantische Liebeslegenden. Auch hieran erkennt man wieder die Parallele zu den Genrefragmenten des späteren Hindifilms.
Das berühmteste Parsi- Theater war die Elphinstone Dramatic Company in Mumbai, die vor allem historische und soziale Dramen zeigte. Indische Klassiker waren „Kalidasa“ oder „König Shudrada“, aber auch europäische Stücke von Moliere und Sardou. Neben westlichen Adaptionen schrieben Autoren eigene Stücke in Urdu. Die Sprache war damals die „lingua franca“ in den moslemisch bevölkerten Städten Nordindiens und wurde von den meisten Menschen in dieser Region verstanden. Aus dieser Tradition heraus ist es heute noch üblich, die Songs der Bollywoodfilme in Urdu zu verfassen. Viele der ersten indischen Filmemacher waren ebenfalls Perser, wie z.B. die Homi Wadia Brüder, die Stunt- und Actionfilme mit der „Fearless Nadia“ drehten.
Wie in diesem Kapitel dargelegt wurde, sind die grundlegenden Elemente des indischen Kinos in der Religion und der Kultur begründet. Das Medium Kino eignete sich mehr als jede andere indische Kunstgattung, um Mythologie und Religion lebendig und plastisch darzustellen und Bekanntes neu zu illustrieren. Ausgehend von der Religion wurde das Kino selbst zu einer Art Religion. Indische Familien gingen in ihrer besten Kleidung und mit großer Erwartungshaltung in die Filmvorführungen. Es herrschte eine Art Pilgertum, denn sie schauten etwas an, das sie schon seit langem kannten und das ihnen vertraut war. Aus diesem Grund nahm das Kino eine andere Entwicklung und hatte einen anderen Stellenwert als bei uns im Westen.
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